„Clean Eating“, „Superfoods“, „Bio“ und „Vegan“ – Ernährungstrends gibt es viele. Und gesunde Ernährung scheint, ebenso wie Bio und regionale Lebensmittel, absolut angesagt zu sein. Neu ist das alles nicht. Bereits vor rund 75 Jahre wurden Ernährungskonzepte, wie „Vollwertkost“ und „Rohkost“ als die wertvollere und gesündere Ernährung postuliert.
An einer gesundheitsfördernden Ernährung ist auch generell nichts auszusetzen. Anders sieht es bei Menschen aus, die eine Besessenheit für gesundes Essen entwickeln. Sie ernähren sich gesund – und haben trotzdem ein Problem. Denn der Drang, nur Gesundes zu essen, kann zwanghaft werden.
Fachleute haben für diese Störung einen Namen: Orthorexie.
Aber was genau verbirgt sich hinter Orthorexie? Wie äußert sich diese Essstörung? Und welche Therapoemöglichkeiten gibt es?
Was ist Orthorexie?
Orthorexia nervosa ist eine Essstörung, bei der Betroffene ein auffallend ausgeprägtes Verlangen danach entwickeln, sich möglichst „gesund“ zu ernähren.
Der Begriff „Orthorexie“ stammt aus dem Griechischen und leitet sich aus den Begriffen „orthós“ = „richtig“ und „órexis“ = „Begierde“ oder „Appetit“ ab. Der amerikanischen Arzt Steven Bratman definierte den Begriff „Orthorexia nervosa“ im Jahre 1996 als eine ungesunde Fixierung (man könnte auch von Besessenheit oder Obsession sprechen), gesunde Lebensmittel zu essen.
Die Bezeichnung „Orthorexie“ bzw. „Orthorexia nervosa“ wurde dabei in Anlehnung an die „Anorexie“ bzw. „Anorexia nervosa“ geprägt. Im Vergleich zu Anorexie, also Magersucht, geht es bei der Orthorexie nicht um die Quantität bzw. Menge der Nahrung, sondern vielmehr um die Qualität bzw. Güte.
Ursprünglich entwickelte Bratman den Begriff „Orthorexie“ für seine diätbesessenen Patienten. Mit der Zeit merkte er jedoch, dass sich hinter dem Begriff eine tatsächliche Essstörung verbirgt. Die Grenze zwischen einer gesunden Ernährungsweise und einer krankhaft gesunden Ernährungsweise sind dabei fließend.
Nicht jeder, der sich vegetarisch oder vegan ernährt, auf die Nährwerte und Zutatenlisten achtet oder bevorzugt regionale und saisonale Bio-Lebensmittel einkauft, hat zwangsläufig ein psychisches Problem oder leidet zwangsläufig an Orthorexie. Laut Bratman ist der Hang zu Fast Food generell häufiger anzutreffen, als der Hang zu gesunden Lebensmitteln.
Nichtsdestotrotz ist es dennoch möglich, eine krankhafte Besessenheit von gesunden Lebensmitteln zu haben.
Das lässt sich am Beispiel der Magersucht verdeutlichen. Wer gesundheitsbewusst ist und an Übergewicht leidet, wird entsprechende Maßnahmen ergreifen (z.B. Änderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens), um sein Übergewicht zu reduzieren. Einige Menschen verfehlen das Ziel jedoch und gleiten aus den vielfältigsten psychologischen Gründen in die Magersucht ab.
Ähnlich verhält es sich bei der Orthorexie. Wohl jeder, der sich gesundheitsbewusst ernährt, wird versuchen, die Aufnahme von Konservierungsstoffen, Pestiziden, Antibiotika und anderen ungesunden Inhaltsstoffen in der Nahrung zu minimieren. Genauso, wie einige Abnehmwillige das Ziel verfehlen und in die Magersucht abrutschen, so gibt es auch Personen, die über das Ziel einer gesunden Ernährungsweise hinausschießen. Sie entwickeln eine ungesunde Fixierung darauf, sich gesund zu ernähren.
Personen, die an Orthorexie leiden, mutiert eine gesunde Ernährungsweise zu einer extremen, obsessiven, psychologischen Einschränkung und manchmal sogar zu körperlich gefährlichen Störungen. Dies ist auch bei Magersucht der Fall, allerdings sind die Folgen einer Magersucht deutlich von denen einer Orthorexie zu unterscheiden.
Ebenso, wie Magersucht, können Orthorexie-Erkrankte Elemente einer Zwangsstörung entwickeln. Das heißt, dass für sie ein innerer Drang besteht, bestimmte Dinge zu denken und/oder zu tun. Doch obwohl Orthorexie durchaus zwanghafte Anteile hat, kann man sie nicht mit anderen Zwangshandlungen, wie z.B. einem Waschzwang vergleichen.
Orthorexia nervosa ist keine Zwangsstörung im eigentlichen Sinne. Zwangserkrankte wehren sich gegen das Auftreten der Zwänge und erleben sie als übertrieben und sinnlos, können ihnen aber meist willentlich nichts entgegensetzen. Bei Orthorektikern sieht es anders aus: sie wehren sich nicht aktiv gegen ihr Verhalten, sondern sind davon überzeugt und wollen es unter keinen Umständen ändern.
Es gibt auch Personen, bei denen Orthorexie in Verbindung mit einer Magersucht auftritt, die sich offen oder verdeckt äußern kann (z.B. durch den Verzehr „reiner“ Lebensmittel als sozial akzeptierte Form, um das Körpergewicht zu reduzieren).
Allerdings weist Orthorexie laut Bratman üblicherweise keine typischem Merkmale einer Zwangsstörung oder Anorexie auf. Diese Erkrankung besitzt eine ambitionierte, idealistische und spirituelle Komponente, welche es ihr erlaubt, sich tief in die persönliche Identität zu verwurzeln.
In den meisten Fällen handelt es sich um ein rein psychologisches Problem, bei dem die Bedenken, bestimmte Lebensmittel zu essen, so groß werden, dass andere Bereiche des Lebens in den Hintergrund rücken und z.T. vernachlässigt werden. In seltenen Fällen können die Folgen jedoch auch viel schwerwiegender ausfallen und gar zum Tod durch Unterernährung führen.
Orthorexie vs. Anorexie: wesentliche Unterschiede
Das primäre Unterscheidungsmerkmal zwischen Orthorexie und Anorexie bzw. Magersucht ist, dass der Fokus bei Magersüchtigen in erster Linie auf dem Körpergewicht liegt. Orthorexie-Erkrankte fokussieren sich hingegen auf den Reinheitsgrad der Lebensmittel.
Menschen mit Anorexie haben ein verzerrtes Körperbild. Sie empfinden sich selbst als „zu fett“ – unabhängig davon, wie dünn sie wirklich sind. Hingegen müssen Menschen mit Orthorexie ständig gegen das Gefühl ankämpfen, sich durch das, was sie gegessen haben, „belastet“ oder „verunreinigt“ zu haben – unabhängig davon, wie sorgfältig sie ihre Ernährung überwachen.
In beiden Fällen spielt Kontrolle eine wichtige Rolle. Aber während Magersüchtige kontinuierlich versuchen, ihr Gewicht zu reduzieren, haben Orthorexie-Erkrankte den Zwang, immer höhere Hürden bei der Nahrungsmittel-Perfektion zu nehmen, um sich gänzlich sauber, rein und klar zu fühlen.
Einige ehemalige Magersüchtige, die von ihrer Erkrankung genesen sind, verlagern ihre gestörte Essgewohnheiten in eine anschließende Orthorexie und damit den Fokus weg vom Gewicht, hin zum Reinheitsgrad der Lebensmittel.
Orthorexie: keine anerkannte Essstörung
Obwohl Orheorexia nervosa bereits Gegenstand zahlreiche Experten-Diskussionen und Fallstudien, sowie Inhalt diverser Fachzeitschriften ist, so wurde sie von der American Psychiatric Association bislang noch nicht als psychische Störung anerkannt und ist auch nicht im DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) enthalten.
Noch herrscht Uneinigkeit darüber, ob es sich bei Orthorexie um ein neues, eigenständiges Krankheitsbild oder lediglich um die Verbindung einer Zwangsstörung und Magersucht handelt. Einige Experten bestreiten die Existenz eines solchen Krankheitsbildes, das in der wissenschaftlichen Medizin bislang ja auch noch nicht anerkannt ist.
Der Grund dafür könnte in der Tatsache liegen, dass es sich bei Orthorexie weniger um eine klassische Essstörung, wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder Binge Eating Disorder, sondern vielmehr um eine verhaltenspsychologische Ernährungsstörung, handelt.
Je nach Ausmaß der selbst auferlegten Einschränkungen kann es mitunter zu Mangelerscheinungen, Unterernährung und Untergewicht kommen. In Anbetracht dieser Aspekte könnte Orthorexie womöglich bald als eigenständiges Krankheitsbild klassifiziert werden.
Wie wird Orthorexie diagnostiziert?
Im Jahr 2016 wurden die formalen Kriterien für Orthorexie nach den Autoren Steven Bratman und Thom Dunn (Ph. D an der University of Northern Colorado) in der Fachzeitschrift „Eating Behaviors“ vorgestellt (siehe Dunn, T.M & Bratman, S. (2016). On orthorexia nervosa: A review of the literature and proposed diagnostic criteria. Eating Behaviors, 21, 11 -17).
Die Kriterien lauten wie folgt:
KRITERIUM A Zwanghafter Fokus auf "gesunde" Ernährung, definiert durch eine Ernährungstheorie oder eine Reihe von Überzeugungen, die in ihrer spezifischen Ausprägung unterschiedlich ausfallen können; eine übertriebener emotionaler Stress bei vermeintlich "ungesunden" Lebensmitteln; ein möglicherweise eintretender Gewichtsverlust, der jedoch als Aspekt der idealen Gesundheit und nicht als primäres Ziel verfolgt wird. |
Anzeichen: 1. Zwanghaftes Verhalten und / oder geistige Auseinandersetzung bezüglich bejahender und restriktiver Ernährungspraktiken, von denen man glaubt, dass sie die optimale Gesundheit fördern. Die Ernährungsweise kann dabei die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln umfassen. Auch können Trainingsleistung und/oder ein fittes Körperbild als Aspekt oder Indikator für Gesundheit angesehen werden. 2. Die Verletzung der selbst auferlegten Ernährungsregeln verursacht eine übertriebene Angst vor Krankheiten, das Gefühl der persönlichen Verunreinigung und/oder negative körperliche Empfindungen, die von Angstzuständen bzw. Besorgnis und Scham begleitet werden. 3. Im Laufe der Zeit steigern sich die Einschränkungen bei der Ernährung und können das Weglassen ganzer Lebensmittelgruppen und zunehmend häufigere und/oder strengere "Reinigungsprozesse" (z.T. Fasten) umfassen, die als Reinigung oder Entgiftung/Detox betrachtet werden. Diese Steigerungen führen häufig zu Gewichtsverlust, wobei der Wunsch, Gewicht zu verlieren, nicht vorhanden, hintergründig oder dem Gedanken an eine gesunden Ernährung untergeordnet ist. |
KRITERIUM B Das zwanghaftes Verhalten und die geistige Beschäftigung mit dem Thema wird klinisch durch eine der folgenden Aspekte verschlechtert: |
Anzeichen: 1. Unterernährung, schwerer Gewichtsverlust oder andere medizinische Komplikationen infolge einer restiriktiven Diät. 2. Innermenschliche Kummer oder Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionen wird gegenüber Überzeugungen oder Verhaltensweisen einer gesunden Ernährung zweitrangig. 3. Positives Körperbild, Selbstwertgefühl, Identität und/oder Befriedigung hängen übermäßig stark von der Einhaltung eines selbst definierten "gesunden" Essverhaltens ab. |
Ähnlich, wie es Fragebögen für die anderen Essstörungen gibt, so wurde auch für Orthorexie-Betroffenen ein Diagnose-Fragebogen („ORTO-15„) entwickelt. Jedoch wurde dieses Ergebnungsinstrument im oben erwähnten Artikel von Dunn und Bratman wegen mangelnder interner und externer Validität kritisiert (Interne Validität: inwieweit wird das gemessen, was gemessen werden soll?; Externe Validität: inwiefern sind die Ergebnisse des Experiments auf die Realität übertragbar?).
Insgesamt existieren bislang drei Screening-Instrumente zur Erfassung von orthorektischem Ernährungsverhalten: der Orthorexia Self-Test von Bratman und zwei davon abgeleitete Fragebögen auf Italienisch (ORTO-15), sowie auf Türkisch (ORTO-11). Die beiden Fragebögen liegen auch in englischen Übersetzungen vor. Für den Orthorexia Self-Test existiert auch eine deutschen Übersetzung (siehe weiter unten unter „Orthorexie Selbsttest“).
Allerdings weisen alle drei Screening-Instrumente Schwächen auf. Laut Dr. Friederike Barthels von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die sich in ihrer Dissertation mit orthorektischem Ernährungsverhalten befasste, liegt bisher kein Fragebogen vor, der orthorektisches Ernährungsverhalten reliabel und valide zu erfassen vermag. Die mittels Bratmans Orthorexia Self-Test, dem ORTO-11 und dem ORTO-15 ermittelten Prävalenzraten (Krankheitshäufigkeit) fallen sehr hoch aus, was wahrscheinlich auf die Messungenauigkeit der verwendeten Instrumente zurückzuführen ist.
Die hohen Prävalenzraten weisen darauf hin, dass womöglich weniger das Vorliegen einer pathologischen Ernährungsweise, als vielmehr eine allgemeine Orientierung hinsichtlich eines gesundheitsbewussten Lebensstils gemessen wird. Darüber hinaus könnten auch kulturelle Unterschiede im Ernährungsverhalten eine Rolle spielen, sodass ein für die amerikanische Bevölkerung entwickelter Test nicht auch auf eine europäische Population übertragbar sein muss.
Die aus den unstandardisierten Screening-Instrumenten resultierende Datenlage ist also unklar. Um weitere Untersuchungen des orthorektischen Ernährungsverhaltens zu ermöglichen, wurde mit der Düsseldorfer Orthorexie Skala (DOS) ein Fragebogen für den deutschsprachigen Raum konstruiert. Dieses, nach standardisierten Methoden konstruierte Messinstrument, ist in der Lage, eine pathologisch einzustufende, extrem gesundheitsbewusste Ernährungsweise zu messen.
Ob Orthorexia Self-Test oder Düsseldorfer Orthorexie-Skala – die momentan zur Verfügung stehenden Untersuchungsinstrumente lieferten bisher widersprüchliche Ergebnisse. Doch auch wenn es für Orthorexia nervosa noch kein anerkanntes System zur Diagnose gibt, so gelten doch einige Kriterien als Anhaltspunkte. Dazu zählen, dass die Störung nicht nur kurzzeitig eintritt, sondern über einen längeren Zeitraum anhält.
Auch die Essgewohnheiten geben Aufschluss, wie ernst es um die Störung bestellt ist: Kreisen die Gedanken ständig ums Essen bzw. eine gesunde Ernährung? Ruft eine Abweichung vom Essensplan heftige Schuldgefühle hervor? Und gibt es bereits bedeutende negative Auswirkungen auf die Lebensqualität (z. B. soziale Isolation)?
All das sind mögliche Anhaltspunkte, anhand derer sich Ärzte und Psychologen ein genaueres Bild machen können. Orhorexie-Erkrankte haben zudem häufig das Gefühl der Überlegenheit und sind eifrig im Missionieren, um andere von ihrer scheinbar gesunden Ernährungsweise zu überzeugen.
Der Beginn von Orthorexie ist meist seelisch begründet. Doch je nach Ausprägung können als Folge der strengen Ernährungsregeln mit der Zeit auch schwere Gesundheitsschäden eintreten, die bis hin zum Tod führen können.
Die Grenze zwischen einen „aufwändigen“ Lebensstil und einer Krankheit ist fließend. Denn gegen die Auswahl von „gesunden“ und die Vermeidung von „ungesunden“ Nahrungsmitteln ist prinzipiell nichts einzuwenden. Erst, wenn daraus eine ausgeprägte Fixierung auf gesundes Essen entsteht, könnte eine Orthorexie vorliegen.
Umso wichtiger ist es, alle Hinweise auf eine mögliche Orthorexie zu untersuchen. Ein Anhaltspunkt kann der Leidensdruck sein, zu dem das selbst auferlegte Ernährungsverhalten führt.
Der fließende Übergang von normalem zu krankhaftem Essverhalten hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Konzept der Persönlichkeitsstörungen gemein. Daher steht zur Diskussion, ob zur Diagnose der Orthorexie neben einem orthorektischen Verhalten auch zwanghafte Persönlichkeitszüge vorliegen müssten.
Andererseits könnte die Orheorexie auch als „Ausstiegsdroge“ bzw. Bewältigungsstrategie für eine zugrunde liegende, schwerere Essstörung gesehen werden. In dem Fall würde das Vorliegen einer Orthorexia nervosa als erhobener Befund der Diagnose „schwerere Essstörung“ zugeordnet werden.
Welche Symptome treten bei Orthorexie auf?
Orthorexie beginnt meist harmlos, mit dem gut nachvollziehbaren Wunsch, sich gesünder zu ernähren. Der Übergang zu einem gestörten Essverhalten wird von den Betroffenen selbst oft nicht wahrgenommen.
Auch für Außenstehenden ist es nicht sofort ersichtlich, wenn Betroffene ihrer Ernährung einen unangemessener Stellenwert einräumen. Zuerst ist es die Psyche, die erkrankt. Negative körperliche Folgen können erst später folgen.
So können anfangs harmlose Maßnahmen zur Veränderung der Ernährungs- und Lebensgewohnheiten (z.B. mit dem Ziel, Gewicht zu verlieren, sich gesünder zu ernähren oder eine bestimmte Essstörung zu kurieren), absurde und krankhafte Ausmaße annehmen.
Folgende Symptome treten laut Dunn & Bratman bei einer Orthorexia nervosa auf:
Obsessiver Fokus auf Nahrungsmittelauswahl, Planung, Einkauf, Vorbereitung und Verzehr
Orthorexie-Betroffene entwickeln einen Zwang, sich stets „richtig“ und „gesund“ zu ernähren. Welche Lebensmittel „gut“ und welche „schlecht“ sind, wird von den Betroffenen individuell festgelegt. Hierfür ist also keine Klassifizierung möglich.
So werden beispielsweise Lebensmittel abgelehnt, die mit Keimen, Pestiziden oder sonstigen Schadstoffen verunreinigt oder potentiell krebs- oder allergieauslösend sein könnten. Zusatzstoffe und Geschmacksverstärker sind tabu und auch Zucker, Weizenprodukte und Milch werden verschmäht. Selbst Obst und Gemüse aus konventionellem Anbau kommt bei vielen Orthorexikern nicht mehr auf den Tisch.
Stattdessen werden Bio-Lebensmittel oder Vollwertkost zur Pflicht. Möglichst natürlich, möglichst unbehandelt, möglichst wenig verarbeitet, also möglichst „rein“ lautet die Devise. Nun ist gegen Einkäufe in Bio-Läden, eine vollwertige Ernährung und die Vermeidung von künstlichen Zusatzstoffen grundsätzlich nichts einzuwenden.
Orthorexie-Erkrankte investieren jedoch immer mehr Zeit in die Entwicklung ihrer spezifischen Ernährungsregeln. Ähnlich wie Magersüchtige und Bulimiker verbringen sie zunehmend mehr Zeit ihres Alltags mit der Auswahl, Zusammenstellung und dem Einkauf von Lebensmitteln.
Jedoch geht es bei Orhorexikern nicht um das „Wieviel“, sondern und das „Wie gut“ bzw. die ihrer Ansicht nach richtige Qualität der Nahrung. Betroffene entwickeln eine krankhafte Fixierung auf gesunde Ernährung und versuchen dementsprechend Ungesundes zu vermeiden.
Was schleichend beginnt, kann in eine wahre Besessenheit ausarten. Das Thema gesunde Ernährung nimmt einen immer höheren, ja einen übertriebenen Stellenwert im Alltag ein. Die Beschäftigung mit Nahrungsmitteln, Bezugsquellen und Nährwerten kann absurde Ausmaße einnehmen.
Betroffene können schon mal stundenlang über Nährwerttabellen sitzen, den Vitamin- und Mineralstoffgehalt bestimmter Lebensmittel vergleichen, sich Lebensmittel-Listen und Ernährungspläne anlegen und die verschiedenen Produkte im Internet oder in Bio-Läden auf Herkunft, Qualität und Nährwerte hin überprüfen.
Wie bei anderen Essstörungen, so kreisen auch bei Orthorexie die Gedanken ständig ums Essen. „Gesunde“ Lebensmittel und die Zusammenstellung und Ausführung des individuellen Ernährungsplans werden zum Lebensinhalt und einer Art Ersatzreligion.
Sämtliche Mahlzeiten werden penibel – oft schon mehrere Tage im Voraus – geplant. Die Auswahl und Zubereitung von Lebensmitteln anhand der selbst auferlegten Ernährungsvorschriften wird mit der Zeit immer aufwändiger, da die Ernährungsregeln meist immer strenger werden.
Was einmal auf der Liste der als „ungesund“ definierten Lebensmittel gelandet ist, bleibt dort i.d.R. auch und wird kontinuierlich durch weitere „schlecht“ Lebensmittel ergänzt. Geeignete Lebensmittel zu finden und den persönlichen Ernährungsplan einzuhalten wird dadurch immer schwerer und zeitaufwendiger. Manchmal wird dafür die gesamte Freizeit geopfert.
Lebensmittel werden in erster Linie als Bezugsquelle für Gesundheit und weniger als Genuss angesehen
Währen die meisten Menschen Essen als Genuss ansehen, steht bei Orthorektikern der gesundheitliche Nutzen im Vordergrund. Ob Lebensmittel schmecken oder nicht, ist zweitrangig, für einige Betroffene sogar unwichtig.
Orthorexie-Erkrankten geht es nicht um die Mahlzeit als Ganzes bzw. den Genuss oder das Zusammenspiel von Aromen und Geschmack. Vielmehr wird jedes einzelne Lebensmittel, sein gesundheitlicher Nutzen und die potentielle Gefahr, für sich betrachtet.
Das Ziel von Orthorektikern ist es, sich so rein, gesund und natürlich zu ernähren, wie nur möglich. Da kann auch geschmackliche Vorlieben oder den Genuss von Mahlzeiten keine Rücksicht genommen werden.
Streng makrobiotische Mahlzeiten zu planen, ökologisch korrekt einzukaufen oder den Vitamingehalt von Gemüse beim Kochen zu erhalten gestaltet sich immer komplizierter und zeitaufwändiger. Da wundert es nicht, wenn Genuss und Freude zunehmend in den Hintergrund rücken.
Ängste oder Ekel, wenn man in die Nähe von verbotenen Lebensmitteln kommt
Obwohl Orthorexie keine echte Zwangsstörung ist, entwickeln Betroffene oft dennoch zwanghafte Züge. So bleibt es nicht nur beim Fokus auf vermeintlich gesunde Lebensmittel. Auch ungesunde Lebensmittel spielen bei diesem Krankheitsbild eine wichtige Rolle.
Scheinbar ungesunde,verunreinigte oder belastete Nahrung wird als Gefahr, als Bedrohung angesehen. Sie gilt es partout zu meiden. Orthorektiker entwickeln eine regelrechte Angst vor vermeintlich schädlichen Nahrungsmitteln. Oberstes Ziel ist die Einhaltung der eigenen, äußerst strengen Ernährungsregeln.
Lebensmittel von der „verbotenen“ Liste zu essen ist für Erkrankte undenkbar. Einige Betroffene entwickeln einen wahren Ekel vor ungesunden Lebensmittel, auch wenn diese in den Augen anderer durchaus gesund und lecker sind.
Wer an Orthorexie leidet, hat den objektiven Blick auf Lebensmittel verloren. Das subjektive Empfinden zählt. Betroffene wollen strikt ihre Ernährungsregeln einhalten, die Kontrolle behalten und sich selbst bloß keinen „Schaden“ durch „verunreinigte“ Lebensmittel zufügen.
Die Aversion kann soweit gehen, dass Betroffene nicht mehr auswärts essen gehen (z.B. Kantine, Restaurant) oder Essenseinladungen von Freunden und Familie ausschlagen. Sie essen nur das, was sie selbst als „gesund“ auserkoren haben. Einige Orthorektiker nehmen aus Angst vor Zucker, Fett, Weizen, Allergenen, Chemikalien oder Zusatzstoffen eigene Lebensmittel-Rationen mit, da sie nichts anrühren, was sie nicht selbst ausgesucht oder zubereitet haben.
Im Extremfall sind Angst und Ekel so groß, dass keine gemeinsamen Mahlzeiten mit Partner, Familie oder Freunden mehr möglich sind. Selbst die gemeinsame Lagerung von Lebensmitteln (im Kühlschrank oder Küchenregal) kann zum Problem werden.
Übertriebener Glaube, dass die Aufnahme oder das Weglassen von bestimmten Lebensmittel-Arten zur Heilung oder Vorbeugung von Krankheiten beiträgt oder das allgemeine Wohlbefinden beeinflusst
Bei Orthorexie geht es nicht ums Abnehmen oder Kalorien zählen. Entscheidend ist die Qualität der Lebensmittel, die deren Quantität.
Orthorektiker nehmen Nahrung als Bedrohung war. Aus dem Grund beschäftigen sie sich auch so intensiv mit Lebensmitteln. Einerseits wollen sie ihrem Körper keine Nahrung zuführen, die irgendwelchen Schaden anrichten könnte. Andererseits versuchen sie – mit aus ihrer Sicht gesunden Lebensmitteln – Krankheiten vorzubeugen und das gesundheitliche Wohlbefinden zu steigern.
Die Frage nach einer gesunden Ernährung mutiert zunehmen zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Nicht umsonst spricht man bei Orthorektikern auch von Ernährungsfanatikern. Die Ernährung wird zur Religion erhoben.
Bratwurst und Pommer sind für Betroffene eine Horrorvorstellung – nicht, weil sie Angst haben, zuzunehmen, sondern weil sie befürchten, ihren Körper damit von Innen zu „verunreinigen“ und Krankheiten, wie z.B. einen Herzinfarkt zu begünstigen.
Bei einigen ist der Verzicht auf bestimmte Lebensmittel anfangs auf chronische Leiden, wie Unverträglichkeiten oder Allergien zurückzuführen. Sie verzichten auf Laktose, Fructose oder Gluten. Mit der Zeit werden die Ernährungsregeln immer strenger und orientieren sich nicht mehr an tatsächlichen Erkrankungen.
So werden zunehmend mehr potentiell allergieauslösende oder unverträgliche Substanzen weggelassen und sämtliche Lebensmittel gestrichen, die Spuren von Erndüssen, Fruchtzucker, Histamin, Hühnerei, Kuhmilch, Laktose, Nüssen, Soja oder Weizen enthalten.
So mancher entwickelt seltsame Vorstellungen davon, was ungesunde Lebensmittel im Körper anrichten können. Das kann soweit gehen, dass Betroffene glauben, ihr Körper könne durch die Aufnahme von Gluten von innen verkleben…
Auch Bratman beschreibt in seinem Orthorexia Essay von 1997, dass er Ende der 70er Jahre ein leidenschaftlicher Verfechter von Heilung durch Nahrung war. In seinem unbegrenzten Optimismus wollte er sich selbst und andere durch Nahrung heilen. Zu dieser Zeit (noch lange, bevor Bratman Alternativmediziner wurde), war er als Koch und Bio-Bauer in einer Öko-Kommune in New York tätig. Seine damaligen Erfahrungen bildeten die Grundlage für seine spätere Medizinkarriere.
Laut Bratman ziehen alle Kommunen Idealisten an. In seiner damaligen Kommune waren es Ernährungs-Idealisten. Von ihm als Koch in einer Kommune wurde gefordert, dass er mehrere getrennte Mahlzeiten auf einmal zubereitet, die exakt den Anforderungen der Mitlieder entsprachen.
Die Hauptgerichte war immer vegetarisch, wobei eine kleine, aber lautstarke Gruppe auf einer optionale Portion Fleisch bestand. Das Fleisch musste jedoch in einer seperaten Küche gekocht werden, da die vielen Vegetarier nicht von den mit Fleisch „kontanimierten“ Töpfen und Pfannen essen würden.
Auch Ovo-Lacto-Vegetarier, die zusätzlich zur vegetarischen Kost Eier und Milchprodukte essen, sowie Veganer, die alle tierischen Produkte inklusive Honig meiden, mussten zufriedengestellt werden. Das galt auch für die vom Hinduismus beeinflussten Kommunen-Mitglieder, die u.a. keine Zwiebeln und keinen Knoblauch aßen.
Bratman berichtet, dass es in der Kommune für Rohköstler (und Kleinkinder) immer Teller mit rohem, geschnittenen Gemüse gab. Einmal versuchte ein Besucher, ihn davon zu überzeugen, dass das Schneiden von Gemüse die ätherischen Felder zerstört. Bratman jagte ihn mit einem riesigen chinesischen Hackmesser aus der Küche.
Die makrobiotische Anhänger setzten sich lautstark für gekochtes Gemüse ein, natürlich frei von „Nachtschattengewächsen“, wie Tomaten, Kartoffeln, Paprika und Auberginen. Einige bestanden bei Obst und Gemüse darauf, dass sie aus der Saison waren, während andere Kommunen-Mitglieder Orangen im Januar einforderten.
Neben diesen persönlichen Meinungen, welches Essen serviert werden sollte, gab es genauso viele Meinungen darüber, auf welche Art und Weise das Essen zubereitet werden sollte. Fast alle waren sich einig, dass nichts in Aluminium gekocht werden darf – mit Ausnahme der Köche, die darauf bestanden, dass nur Aluminium die Wärme zufriedenstellend verteilen könne.
Allgemeiner Konsens bestand auch darin, dass Gemüse nur in minimalen Mengen von Wasser gedämpft werden sollte, um die wertvollen Vitamine zu erhalten. Einige Enthusiasten sind sogar durch die Küche geschlichen und haben freiwillig die dunkle Flüssigkeit getrunken, die nach dem Kochen übrig blieb.
Kontroversen Wirbel gab es auch bei der Frage, ob Gemüse gewaschen werden sollte. Einige Gemeindemitglieder glaubte fest daran, dass Vitalstoffen nur unter der Schale haften unter allen Umständen erhalten bleiben müssen. Andere waren der Meinung, dass eine Vielzahl an schädlichen Schadstoffen auf der Oberfläche haften und kräftig abgeschrubbt werden müssten. Eine Besucherin erklärte Bratman sogar, dass man das Gemüse am besten in Bleichmittel tauchen sollte und lieferte ein so überzeugendes Argument für ihre Überzeugung, dass er diese tatsächlich adaptiert hätte, hätte es zufälligerweise keinen Mangel an Bleichmitteln gegeben…
Die Erfahrungen von Bratman zeigen, dass die Vorstellungen der Kommunen-Mitglieder, was gesund und was ungesund war,zum Teil stark voneinander abwichen. Was für die einen die göttlichste Speise war, die jemals kreiert wurde, war für die anderen die schlimmste Pest, die je ein Mensch dem anderen zu essen gab.
So proklamierte beispielsweise ein bekanntes Naturheilverfahren, dass rohes Obst und Gemüse die idealen Lebensmittel sind. Verfechter dieses Ernährungskonzepts riefen daraufhin den Herd zum größten Feind des Menschen aus.
Eine andere bekannte Theorie hingegen verbot rohe Lebensmittel, da diese ungesund wären und schrieb ihrem Verzehr Krankheiten, wie MS, rheumatische Arthritis und Krebs zu. Bratman nimmt hier Bezug zur Makrobiotik, einer nach taoistischen Lehren und asiatischen Traditionen basierende Ernährungs- und Lebensweise, die zu einem gesunden, langen Leben führen soll. Laut der makrobiotischen Ernährungslehre soll jegliches Gemüse gekocht werden. Obst sollte überhaupt nicht verzehrt werden.
Solche Diskrepanzen in der alternativen Ernährungsmedizin gab es nach Bratmans Erfahrungen genügend. Hier einige Beispiele: an einer Stelle wird behauptet, scharfes Essen sei schlecht, an anderer Stelle ist Cayenne-Pfeffer hingegen gesund. Fasten mit Orangen ist gesund, aber Zitrusfrüchte sind zu sauer. Obst ist die ideale Nahrung, aber Früchte verursachen Candidose. Milch ist nur für junge Kälber gut, pasteurisierte Milch ist noch schlechter, aber gekochte Milch ist „die Nahrung der Götter“. Fermentierte Lebensmittel, wie Sauerkraut, sind im Grunde genommen verfault. Aber fermentierte Lebensmittel sollen auch der Verdauung helfen. Süßigkeiten sind schlecht, aber Honig ist die perfekteste Nahrung der Natur. Essig ist Gift. Doch Apfelessig soll die meisten Krankheiten kurieren. Proteine sollten nicht mit Stärke kombiniert werden. Aduki-Bohnen und braunen Reis sollte man hingegen immer zusammen kochen.
Die Feststellung, dass die Ernährungstheroien so chatosisch sind, beunruhigte Bratman. Noch mehr störte ihn der Extremismus, der sich so schnell unter denen verbreitete, die diätisches Heil versprachen. In seinem Essay erwähnt er einen makrobiotisches Seminar, in welchem ein Dr. L. über das Übel der Milch referierte. Dort erklärte er, dass Milch die Verdauung verlangsamen den Stoffwechsel blockieren, die Arterien verstopften, die Verdauungsprozesse drosseln und Verschleimungen, Atemwegserkrankungen und Krebs verursachen soll.
Zu dieser Zeit lebte auch ein junger, schüchterner und zurückgezogener Mann in der Gemeinde, der versuchte, von seiner Alkoholsucht loszukommen, die in seinem Gesicht auch bereits Spuren hinterlassen hat. Als er den Seminarraum mit einem Glas Milch in der Hand betrat (weil das der einzige Weg war, um wieder zurück in sein Zimmer zu kommen), wurde er vom Seminarleiter prompt attackiert: „Wissen Sie denn nicht, was das Zeug mit ihrem Körper anrichtet, Sir?“. Er forderte die Seminarteilnehmer auf, sich ihn anzuschauen: „Er ist ein Beleg für die gesundheitszerstörerischen Eigenschaften der Milch. Studieren Sie die geschwollene Haut in seinem Gesicht. Beachten Sie die Tränensäcke unter den Augen. Schauen Sie sich die Steifigkeit seines Gangs an. Milch, hat ihm das angetan!“.
Verwirrt sah John in sein Glas und in die verurteilenden Gesichter. „Aber, das ist nur Milch, nicht wahr?“ flüsterte er. In den Treffen der anonymen Alkoholiker war Milch praktisch Muttermilch und damit gleichbedeutend mit Rechtschaffenheit und Reinheit. „Ich meine, es ist kein Whiskey“, sagte John weiter.
Bratman schloss daraus, dass Heilpraktikern, wie Dr. L. durch die Fokussierung auf die Ernährung und das ignorieren aller anderer Aspekte des Lebens, die ganzheitliche Perspektive auf das Leben fehlt. Dabei ist die ganzheitliche Betrachtung der Dinge eine der wichtigsten Ideale der alternativen Medizin.
Periodische Verschiebungen der Ernährungs-Überzeugungen, während andere Abläufe unverändert bleiben
Von Orthorexia nervosa Betroffene entwickeln ihre eigenen spezifischen Essgewohnheiten. Selten bleibt es bei den einst selbst auferlegten Regeln. Häufig kommen weitere Regeln hinzu. Was am Anfang noch als „gesund“ durchging, kann später als „nicht gesund“ angesehen werden.
Die exzessive Auseinandersetzung mit Lebensmitteln und Berichte über Lebensmittelskandale führen zu persiodischen Verschiebungen der Ernährungs-Überzeugungen. Die Liste der erlaubten Lebensmittel wird immer enger und das Ernährungsverhalten nimmt immer extremere Formen an. Selbst, wenn die potentielle Gefahr gebannt ist, bleibt es beim Ausschluss der einst verbannten Lebensmittel.
In der Anfangsphase ist eine Orthorexie kaum von einer gesunden und ausgewogenen Ernährung zu unterscheiden. Es kann mit einem Verzicht auf Zucker und verarbeitete Lebensmittel beginnen. Später wird auf Bio-Qualität und naturnahe Anbaumethoden geachtet. Das klingt erstmal gesund, doch bei Orthorexie artet die Umsetzung in Besessenheit aus.
Die eigenen Qualitätsmerkmale werden immer strenger. So fallen Stück für Stück immer mehr Lebensmittel durchs Raster, sei es, weil sie schädliche Stoffe enthalten, Allergien oder Krebs auslösen oder aus anderen Gründen ungesund sind.
Einige Betroffene werden im Laufe ihrer „Ernährungskarriere“ zu Veganern oder Anhängern der Rohkost. Sie gehen nicht mehr in den Supermarkt, sondern kaufen ihre Lebensmittel ausschließlich im Bio-Laden, auf dem Markt, beim Bauern oder im Internet. Manchmal muss die Hirse direkt aus Afrika oder der Reis aus Asien eingeflogen werden.
Im Extremfall wird nur noch das gegessen, was im eigenen Garten selbst angebaut wurde. Gemüse vorher kochen? Zerstört zu viele Nährstoffe! Am besten roh und direkt nach der Ernte essen!
Auch Bratman stellte im Laufe der Zeit fest, dass seine Anforderungen an die eigene Ernährung immer extremer wurden. Während seiner Zeit in der Kommune durchlebte er eine exzessive Phase, was die Nahrungsreinheit betrifft. An Tagen, an denen er nicht kochte, kümmerte er sich um den Bio-Bauernhof. Dies ermöglichte ihm permanenten Zugang zu frischen, hochqualitativen Erzeugnissen.
„Am Ende wurde ich so ein Snob, dass ich es verschmähte, jegliches Gemüse zu essen, dass vor länger als 15 Minuten vom Boden geerntet wurde. Ich war ein absoluter Vegetarier, kaute jeden Bissen 50 mal, aß immer an einem ruhigen Ort (alleine) und ließ nach jeder Mahlzeit noch etwas Platz im Magen.“
Moralische Beurteilung anderer auf Basis ihrer Ernährungsentscheidungen
Bratman beschreibt in seinem Orthorexia Essay, dass er sich nach einem Jahr des selbst auferlegten Ernährungsregimes „leicht, klardenkend, energiereich, stark und selbstgerecht“ fühlte.
Er betrachtete die elend, ausschweifenden Seelen um sich herum, die ihre Chocolate Chip Cookies und Pommes herunterschlangen, als bloße Tiere bei der Befriedigung ihrer geschmacklichen Begierden.
Doch in seiner Tugend war Brantman damals nicht selbstgefällig. Er verspürte eine Verpflichtung, seine schwächeren Bruder und Schwestern zu erleuchten. So belehrte er Freunde und Familie ständig vom Übel der raffinierten, verarbeiteten Lebensmittel und die Gefahren von Pestiziden und Kunstdünger.
Orthorektiker beschäftigen sich sehr intensiv mit dem, was sie essen und sind von ihren Ansichten über Ernährung und Lebensmittel überzeugt. Sie empfinden ihre selbst auferlegten, z.T. sehr strengen Ernährungsregeln als richtig und versuchen, andere zu einer „gesunden“ Ernährung zu missionieren.
Auf Diskussionen lassen sich Orthorektiker meistens nicht ein. Schließlich sind sie hier die „Sachverständigne in Ernährungs- und Warenkunde“. Die Einhaltung der Ernährungsregeln erfordert viel Willenskraft und Durchhaltevermögen. Entsprechend überlegen fühlen sich Orthorektiker gegenüber „Normalessern“. Sie erleben ihre Ernährungsweise in spirituellen Dimensionen und nehmen sich selbst als körperlich und geistig rein wahr.
„Der Akt des Verzehrs von puren Lebensmitteln beginnt pseudo-spirituelle Assoziationen einzunehmen. Bei fortschreitender Orthorexie kann man sich nach einem ganzen Tag mit Sprossen, Umeboschi Pflaumen und Amaranth-Keksen genauso heilig fühlen, als wenn man die Armen und Obdachlosen unterstützt hätte“ sagt Dr. Steve Bratman in seinem Orthorexia Essay von 1997.
Andere, die „Schund“ in sich aufnehmen und sich selbst in Sachen Ernährung nicht unter Kontrolle haben, sind bedeuerns- und bemitleidenswert. Orthorektiker haben kein Verständnis dafür, wenn Menschen ihre Lebensmittel lieber nach Geschmack und Genuss, als nach gesundheitlichem Nutzen, auswählen. Sie spielen sich in dem Fall gerne als Helfer auf und versuchen, „Junk-Food-Esser“ zu bekehren.
Körperbildverzerrung im Sinne von körperlicher „Unreinheit“, weniger bezüglich des Gewichts
Magersüchtige und Bulimiker, denen es bei der Ernährung in erster Linie um das Körpergewicht geht, empfinden sich selbst oft als „zu dick“ und sehen im Spiegel Fettpölsterchen, wo eigentlich keine sind. Orthorektiker hingegen versuchen, den Zustand perfekter, körperlicher Reinheit zu erlangen.
Während bei Esstörungen, bei denen es um Quantität geht, bereits bei kleinen Nahrungsmengen, die Angst vor einer Gewichtszunahme besteht, fürchten Orthorexie-Betroffene, ihren Körper von innen zu verunreinigen, wenn sie etwas Verbotenes essen. Ihnen geht es in erster Linie nicht um Abnehmen und Kalorien, sondern um den Reinheitsgrad und Gesundheitswert.
Einige Orhorektiker können dem strengen Ernährungsregiment nicht lange standhalten und erliegen ihrem Verlangen. Wenn sie etwas essen, was sie selbst als ungesund halten, fühlen sie sich unrein und schändlich. Sie empfinden Nahrung als Bedrohung. Das kann Ängste und Schuldgefühle hervorrufen, die nicht selten in Selbstbestrafungen, wie noch strikteren Ernährungsregeln oder gar Abstinenz resultieren. Bratman schreibt hierzu:
„Wenn ein Orthorexikter einen Fehler begeht (die Verletzung der Ernährungsgesetze kann, abhängig von der jeweiligen Theorie, im Verschlingen einer einzelnen Rosine oder im Verzehr einer Gallone Haagen Daz Eis und einer Surpreme Pizza bestehen), erlebt er dies als einen Sündenfall und muss auf zahlreiche Akte der Reue absolvieren. Dabei handelt es sich in der Regel um immer strengere Diäten und Fasten.“
Bratman beschreibt weiter, dass diese „Küchen-Spiritualität“ mit der Zeit anfängt, andere Bereiche des Lebens zu überschreiben. Ein Orthorektiker kann beim Verzehr eines Hot Dogs zum Tode betrübt sein – auch wenn sein Team gerade die Weltmeisterschaft gewonnen hat. Andererseits kann er jegliche Enttäuschungen durch ein erhöhtes Maß an Anstrengung bei einer reinen Ernährungsweise ausgleichen.
Auch wenn bei Orthorexie die angenommene Qualität der Lebensmittel im Vordergrund steht, ist die Krankheit bei einem Teil der Betroffenen auch mit Gewicht und Körpergefühl verknüpft. Vor bei Frauen ist neben der Angst, durch ungesunde Ernährung krank, auch der Wunsch, durch gesunde Ernährung schlank zu werden oder bleiben, vorhanden.
Menge und Qualität des Essens können bei Orthorexie also auch durchaus beide eine Rolle spielen. Bei einigen Patienten scheint die Orthorexie eine Variante der Magersucht zu sein. Auch Bulimie kann in Kombination mit Orthorexie auftreten, z.B. wenn man versucht, sich der „ungesunden“ Lebensmittel wieder zu entledigen (z.B. nach einem Restaurantbesuch oder nach Verletzung der eigenen Ernährungsregeln).
Welche Folgen hat Orthorexie?
Auch eine gesunde Ernährungsweise kann dramatische körperliche, seelische und soziale Folgen haben.
Körperliche Folgen
Wird Nahrung als Bedrohung wahrgenommen, bleibt die Lust am Essen oft auf der Strecke. Es kostet so viel Zeit und Mühe, gesundheitlich unbedenkliche Lebensmittel zu finden und richtig zuzubereiten, dass so mancher Orthorektiker lieber gar nichts isst, als das Falsche zu essen. Gäbe es eine Pille als Ersatz für „reine“ Ernährung, wäre sie bei einigen Orthorektikern wohl die erste Wahl.
Die starke Einschränkung von Lebensmitteln oder gar ganzen Lebensmittel-Gruppen kann zu erheblichen Mangelerscheinungen führen. Werden Mahlzeiten ausgelassen und die Nahrungsaufnahme gedrosselt, kann es zu Untergewicht kommen. Wenn es kaum noch Lebensmittel gibt, die gegessen werden dürfen, können neben Symptomen, wie Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen, eingeschränkter Leistungsfähigkeit und Schlafstörungen auch schwere Erkrankungen bis zu niedrigem Blutdruck und verlangsamtem Puls eintreten.
Steven Bratman berichtet auf seiner Website in der Rubrik „Fatal Orthorexia“ von Kate, die keine Angst davor hatte, zuzunehmen, sondern sich einfach nur gesund ernähren wollte. Ihrer Meinung nach war sie krank und müsse „gereinigt“ werden. Dies hatte zur Folge, dass sie ihr Gewicht immer weiter herunterschraubte, bis es sie schließlich umbrachte. Kate starb an Herzinsuffizienz durch einen orthorexie-induzierten Hungerzustand.
In den meisten Fällen führt Orthorexie lediglich zu psychischen Belastungen, die verschiedene Bereiche des Lebens beeinträchtigen, stellt aber keine körperliche Gefahr dar. Allerdings ist Abmagerung auch bei einigen Formen bestimmter „gesunder“ Ernährungsformen, wie z.B. Rohkost zu beobachten, die mit der Zeit anorektische Ausmaße annehmen können.
Eine „anorektische Orthorexie“ ist laut Bratman genauso gefährlich, wie eine Magersucht, auch wenn die Motivation dahinter eine andere ist. Doch „wie auch immer die Motivation sein mag: es besteht nicht Gesundes und Natürliches darin, sich selbst zu Tode zu hungern!“.
Soziale Folgen
Die extreme Fixierung auf gesund Nahrung hat auch soziale Folgen. Orthorektiker fühlen sich als Ernährungs-Profis und Freunde und Familie unbedingt missionieren. Das soziale Umfeld hat allerdings nur selten Verständnis für solch eine dogmatische Einstellung und sieht sich zurück.
Das Verhalten von Orthorektikern gleicht extrem religösen Menschen. Man könnte hier auch von Ernährungsfanatikern sprechen. Und wer lässt sich schon gerne von einem Fanatiker zu scheinbar „gesünderer“ Ernährung bekehren? Das Problem ist, dass der missionarische Eifer keine Gegenargumente oder andere Meinungen zulässt. Orthorektiker denken, dass sie das Richtige tun und wollen auch andere dazu bringen, sich ihren strengen Ernährungsregeln zu unterwerfen.
Wer sich nicht darauf einlässt, wird als „Ungläubiger“ abgetan und bemitleidet. Orthorektiker distanzieren sich immer mehr von Nicht-Gesund-Essern und schränken die Kontakte auf das nötige Mindestmaß ein. Auch das führt zu sozialer Isolation.
Ihre extreme und einseitige Haltung macht es Orthorexie-Betroffenen äußerst schwer, in Gesellschaft zu essen. Der Gesundheitswahn kann so weit gehen, dass fast fast alle Lebensmittel kategorisch als „unrein“ oder „ungesund“ abgelehnt werden.
Ein Imbiss-Snack mit den Kollegen, Mittagessen in der Kantine, ein Dinner bei Freunden oder eine Einladung ins Restaurant werden undenkbar, weil zu gefährlich. Woher kommen Reis, Gemüse und Fleisch? Ist alles Bio? Wie wurde das Essen zubereitet? Woher stammen z.B. Öl und Gewürze? Orthorexie-Betroffene gehen Situationen, bei denen sie keinen Einfluss auf Art, Herkunft und Zubereitung der Zutaten haben, gerne aus dem Weg.
Da das Thema Ernährung in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert einnimmt, ist ein normales Leben mit einer fortgeschrittenen Orthorexie kaum möglich. Betroffene nehmen nicht mehr an gesellschaftlichen Anlässen teil, schlagen Einladungen zum Essen aus, gehen nicht mehr mit Freunden feiern oder meiden Treffen im Freundeskreis. Essen verliert seine soziale Funktion.
Hierbei spielt auch der Faktor Zeit eine Rolle. Denn die Planung und Organisation der eigenen Mahlzeiten nimmt immer mehr Zeit in Anspruch, sodass ohnehin kaum Platz für Freunde und Hobbys bleibt.
Orthorektiker befinden sich im „Tunnel“. Die Gedanken kreisen ständig um gesundes Essen , die nächste Mahlzeit und die einzelnen Zutaten. Sie essen meist alleine – und dann auch nur das, was sie selbst eingekauft und zubereitet haben.
Dr. Steve Bratman berichtet aus eigener Erfahrung:
„Das Bedürfnis, an Lebensmittel zu gelangen, die frei von Fleisch, Fett und künstlichen Zusatzstoffen sind, versetzte nahezu alle gesellschaftlichen Formen des Essens außer Reichweite. Darüber hinaus gerieten aufdringliche Gedanken an Sprossen zwischen mich und eine gute Konversation. Vielleicht war es am erschreckendsten zu spüren, dass die Poesie meines Lebens abgenommen hat. Alles, woran ich denken konnte, war Essen.“
Wie bei Bratman, nimmt Essen für Orthorektiker einen immer höheren Stellenwert in ihrem Leben ein. Wenn der Wunsch nach Kontrolle zum Zwang mutiert, wird es problematisch. Dann wird dem „richtigen“ Essen tatsächlich mehr Platz im Leben eingeräumt, als Familie, Freunden, Partnerschaft und Hobbys.
Die Einhaltung der Essensregeln hat oberste Priorität, selbst wenn die sozialen Kontakte darunter leiden. Lässt sich ein gemeinsames Essen nicht vermeiden, bringen Orthorektiker ihr eigenes Essen mit, um bloß nicht von ihrem Ernährungsplan abzuweichen. Bereits das Mitbringen von „Notrationen“ kann Orthorektiker im sozialen Umfeld zu Eigenbrödlern und Außenseitern machen. Schlimmer wird es, wenn sie versuchen, die „Schlechtkostesser“ in ihrem sozialen Umfeld zu einem gesünderen Essenverhalten zu bekehren.
Die Isolation findet also von beiden Seiten statt. Im schlimmsten Fall gehen sogar langjährige Ehen und Freundschaften zu Bruch.
Seelische Folgen
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Freundschaft, Gespräche, Liebe, Zärtlichkeiten und Geborgenheit – all das funktioniert nur im Austausch mit anderen Menschen. Die Orthorexie kann die sozialen Bindungen nachhaltig verändern und aus sonst umgänglichen Personen Einzelgänger machen.
Der Rückzug infolge der extremen Essgewohnheiten, der sowohl vom Betroffenen selbst, als auch vom sozialen Umfeld ausgehen kann, lässt das komplette Beziehungsgeflecht langsam wegbrechen.
Die Vereinsamung mag zwar z.T. gewollt sein, kann aber auch Auswirkungen auf die Gesundheit und das Seelenheil haben. Eine im Fachmagazin PLoS Medicine veröffentlichte Studie aus dem Jahre 2010 an über 300.000 Probanden zeigte, dass der Einfluss von sozialen Beziehungen auf das Mortalitäts-, bzw. Sterberisiko mit etablierten Risikofaktoren, wie etwa Rauchen, vergleichbar ist. Die Teilnehmer mit stärkeren sozialen Beziehungen hatten eine um 50 Prozent erhöhte Überlebenswahrscheinlichkeit.
Menschen, die sozial aktiv sind, können sich also im Schnitt also über ein längeres Leben freuen, als Einzelgänger. Für Orthorektiker, die sich von ihrem sozialen Umfeld abgekapselt haben, kann es ein sehr erdrückendes Gefühl sein, sich vollkommen allein zu fühlen. Das Risiko für Despressionen ist aufgrund des weggebrochenen Beziehungsnetzes deutlich erhöht.
„Menschen ohne ein unterstützendes soziales Netzwerk neigen angesichts starker Stressoren eher zu Depressionen. Außerdem haben depressive Menschen während ihrer depressiven Episoden kleinere und weniger unterstützende soziale Netzwerke, und manchmal auch noch nach der Remission ihrer Depression.“ (James N. Butcher, Susan Mineka, Jill M. Hooley: Klinische Psychologie. Pearson Studium, 2009, S. 307).
Die kleineren und weniger unterstützenden sozialen Netzwerke gehen in vielen Fällen dem Ausbruch einer Depression voraus. Erkrankungen, wie eine Orthorexie können demnach eine Depression begünstigen. Hinzu kommt, dass Menschen, die erst einmal depressiv geworden sind, ohnehin Schwierigkeiten haben, ihr soziales Netzwerk aufrechtzuerhalten. Die Depression fungiert hier gewissermaßen als Verstärker der durch die Orthorexie hervorgerufenen sozialen Probleme.
Das Verhalten einer depressiven Person versetzt andere oft dazu, den Betroffenen zu unterstützen und zu versorgen. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Mit der Zeit kann ein depressives Verhalten auch negative Gefühle bei anderen Menschen hervorrufen, die von Zurückweisung bis Feindseligkeit reichen können.
Orthorektiker erleben dies z.T. bereits während ihrer krankhaften Fixierung auf Ernährungsthemen und das Missionieren ihres sozialen Umfeldes. Wenn Betroffene zusätzlich an einer Depression erkranken, kann eine Abwärtsspirale im Verhalten entstehen, die dazu führt, dass sich Betroffene noch schlechter fühlen.
Finanzielle Folgen
Auch wenn einige Orthorektiker im späteren Stadium ihrer Erkrankung kaum noch etwas zu sich nehmen, so kann Orthorexie auch zu einer finanziellen Belastung werden. Auf Steven Bratmans Website kommentierte beispielsweise ein gewisser Paul D., dass die Orthorexie zwar in der Tat Auswirkungen auf die Desundheit hat. Die größten Auswirkungen seien seiner Meinung nach jedoch auf Beziehungen und die Haushaltskasse zu beobachten:
„In meinen Fall genießen meine Frau und ich über ein jährliches Bruttoeinkommen von insgesamt über $ 100k pro Jahr (= 100.000 $, entspricht ca. 92.300 Euro) und leben in einer kostengünstigen Stadt. Doch weil meine Frau so viel Geld für „reine Nahrung“ in den teuersten Geschäften, mehr als hundert verschiedene Vitaminpräparate und pflanzliche Pillen, einschließlich Selbstinjektionen mit Vitamin B und Heilpraktiker ausgibt – für die die Versicherung nicht aufkommt – alles begleitet von pseudo-medizinischem Gerede von „Nebennierenschwäche“ und „Eisenmangel“ (ihre RBC-Werte und HGB-Werte sind in Ordnung), leben wir von Gehaltscheck zu Gehaltscheck und haben kein Geld für dringende Verbesserungen am Haus, Urlaub, eventuell ein neues Auto, Rücklagen für Arbeitslosigkeit usw. Und die Aussichten für den Ruhestand (ich bin 59) sehen nicht gut aus.
Nicht, dass wir eine echte Urlaubsreise unternehmen könnten. Das würde meine Frau außer Reichweite der einzigen Nahrungsmittel bringen, die sie essen möchte. Und nein, sie wird nicht zugeben, dass etwas falsch mit ihr ist. Ich kann diese Angelegenheit nicht mit ihr besprechen, ohne dass es in einem anschließenden Streit ausartet. Und dann gibt es noch die Auswirkungen auf mich. Ich fürchte, dass mein Ärger und meine Wut außer Kontrolle geraten.“
Auch andere berichten, dass sie viel Geld für gentechnik-freie Lebensmittel, organische Bio-Lebensmittel vom Wochenmarkt und „Super pure food“ ausgegeben haben. Wurde das Geld nicht fürs Essen ausgegeben, haben es einige Orthorektiker in medizinische Vorsorgung investiert.
Insbesondere, wenn die hohes Ausgaben für „reine Nahrung“ und Gesundheitsbehandlungen auch andere Menschen, wie den Partner und die Familie betreffen, ist die Belastung für das soziale Umfeld und die Betroffenen selbst umso größer.
Welche Ursachen hat Orthorexie?
Die Ursachen für die intensive Beschäftigung mit der eigenen Ernährung sind vielfältig. Orthorexie kann ganz unschuldig mit dem Wunsch beginnen, die allgemeine Gesundheit zu verbessern oder chronische Krankheiten zu überwinden.
Aber warum artet eine gesunde Ernährungsweise zu einer krankhaften Fixierung aufs Essen aus? Eine mögliche Ursache, die häufig erwähnt wird, ist das Bedürfnis nach Selbstkontrolle. Einige Orthorektiker versuchen über die Reglementierung der Nahrungsaufnahme die verloren gegangene Kontrolle in in anderen Lebensbereichen wiederherzustellen. Eine zerbrochene Ehe, Arbeitslosigkeit, eine Erkrankung – all das sind Ereignisse, die das Gefühl des Kontrollverlustes hervorrufen, Ängste schüren und das Selbstwertgefühl mindern können.
Den unkontrollierbaren Gefahren der Welt wird ein eigenes Kontrollsystem entgegensetzt. Durch den Verzicht auf alles Ungesunde und den Verzehr von „reinen“, nährstoffreichen und fair gehandelten Bio-Lebensmitteln, haben Betroffene zumindest ihre Ernährung voll im Griff. Ein Teil des Lebens scheint gerettet.
Oft gelangen Orthorektiker über eine Diät zur Gewichtsreduktion oder eine diätetische Maßnahme im Zusammenhang mit einer (chronischen) Krankheit in den Teufelskreis der gesunden Ernährung. Die Angst vor einer erneuten Gewichtszunahme, einem erneuten Auftreten der Krankheit bzw. einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes, kann in einer Besessenheit von gesunder Ernährung resultieren.
Die Krankheit kann auch im Zuge einer Ernährungsumstellung, zum Beispiel auf eine vegetarische, vegane, kohlenhydratarme oder allergenfreie Ernährung, beginnen. Wer z.B. unter einer Allergie oder einer Unverträglichkeit gegen bestimmte Nahrungsbestandteile leidet, muss sich zwangsläufig mit den Inhaltsstoffen von Lebensmitteln auseinandersetzen.
Dies kann zu jedoch auch zu einer Obsession werden, die im Studieren und Vergleichen von Zutaten, Nährwerten, Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen, Herkunft, etc. endet. Was anfänglich dazu diente, den Gesundheitszustand zu verbessern oder Erkrankungen zu behandeln, wird später durch die Angst vor Erkrankungen durch „kontaminierte“ Lebensmittel abgelöst.
Bei anderen können die Aufdeckung von Lebensmittelskandalen, Etikettenschwindel, Berichte über tierquälerische Massentierhaltung oder Lebensmittel-Tests die Auslöser für eine Orthorexie sein. Viele Verbraucher fühlen sich verunsichert und fragen sich: Was kann ich jetzt eigentlich noch bedenkenlos essen?
Solche Verunsicherungen führen dazu, dass sich Menschen bei selbsternannten Ernähurngsspezialisten oder in Büchern, Zeitschriften, Foren, Blogs & Co. zunehmend häufiger über „gesunde“ Ernährung und die optimale, „richtige“ Ernährungsform informieren.
Bratman schreibt in seinem Orthorexia Essay, dass es ihn oft überrascht , wie verklärt ahnungslose Befürwortet der Ernährungsmedizin dabei verharren, mit ihren Methoden eine Obsession bzw. Besessenheit zu erzeugen. In der Tat scheinen populäre Bücher über Naturmedizin, durch ihren Enthusiasmus für eine Ernährungsumstellung, aktiv eine Orthorexie zu fördern.
Für Bratman besteht kein Zweifel darin, dass das ein Ausgleich für die ernährungsscheue Haltung der modernen Medizin ist. Wenn allerdings eine gesunde Ernährung zu einer eigenständigen Krankheit mutiert, ist dies wohl schlimmer, als die gesundheitlichen Probleme, mit denen der Kreislauf der Fixierung begann…
Aus diesem Grund befindet sich Bratman als praktizierender Alternativmediziner nach eigener Aussage oftmals in einem Konflikt. Natürlich gibt er seinen Patienten fast immer Empfehlungen, wie sie ihre Ernährung verbessern könnten. Allerdings fühle er sich nicht mehr ganz unschuldig, wenn er diätetische Vorschläge macht. Stattdessen betrachtet er Anpassungen bei der Ernährung, wie eine medikamentöse Therapie, also eine Behandlung, die ernste, potentielle Nebenwirkungen nach sich ziehen kann.
Der Übergang von einer gesunden Ernährung und einer gesunden Skepsis gegenüber Lebebsmitteln hin zu einer Essstörung ist fließend und wird von den Betroffenen oft gar nicht wahr genommen. Immerhin achten sie auf sich und tun ihrem Körper etwas Gutes. Durch die strenge Auswahl und Kontrolle der selbst verzehrten Lebensmittel fühlen sich Betroffene weniger ausgeliefert. Auch häufige Berichte über neue Diät- und Ernährungsformen, sowie Ernährungs- und Gesundheitsempfehlungen, können eine übertriebene Fixierung auf „gesunde“ Lebensmittel einleiten.
Die Ursachen für Orthorexie sind so vielfältig wie die akzeptablen Lebensmittel und Zubereitungsmethoden. Jeder Orthorektiker legt für sich selbst fest, was und wie er essen möchte.
Eines haben jedoch alle Orthorektiker gemeinsam: die bedingungslose Konsequenz, mit der sie ihren neuen Ernährungsstil pflegen und ihr Selbstbild. Betroffene haben ein Gefühl von Selbstkontrolle und Reinheit, welche auch das Selbstwertgefühl steigert und sie sich gegenüber „Nicht-Gesund-Essern“ überlegen fühlen lässt.
Wer ist besonders gefährdet?
Laut Barthels deuten aktuelle Daten zur Häufigkeit eines orthorektischen Ernährungsverhaltens – erfasst mit der nach standardisierten Methoden entwickelten Düsseldorfer Orthorexie Skala (DOS) – auf eine Prävalenz von einem bis zwei Prozent in der Allgemeinbevölkerung hin. Damit liegt die Prävalenzschätzung etwa im Bereich anderer Essstörungen.
Aber lassen sich Menschen, die sich zwanghaft in ihrer Lebensmittelauswahl einschränken, keine Ausnahmen von ihrem Ernährungsplan zulassen und keine Essenseinladungen von Freunden annehmen auch in spezifische Subgruppen einteilen?
Barthels hat in drei verschiedenen Studien das Ernährungsverhalten von spezifischen Personengruppen untersucht, bei denen aufgrund eines besonderen, aus verschiedenen Gründen eingeschränkten Essverhaltens, erhöhte Werte auf der DOS vermutet wurden. Dabei wurden Stichproben von Vegetariern und Veganern, diäthaltenden Probanden und Diabetes-Typ-1-Patienten genommen.
Alle drei Personengruppen haben unterschiedliche Gründe und eine unterschiedliche Motivation, ihre Ernährung einzuschränken. Aber geht ein höherer Grad an Restriktion der Ernährung auch mit höheren Werten auf der DOS einher?
Das Ergebnis der Studien lautete:
„Personengruppen, die aus unterschiedlichen Gründen ihr Ernährungsverhalten einschränken (sich zum Beispiel vegetarisch oder vegan ernähren, eine Diät halten oder aufgrund einer Insulintherapie bei Diabetes-Typ-I die Kohlenhydratzufuhr beachten müssen), erreichen höhere Werte auf der Düsseldorfer Orthorexie Skala als Personengruppen, die ihre Ernährungsweise nicht einschränken. Auch Patientinnen mit Essstörungen zeigen stärkeres orthorektisches Ernährungsverhalten, während sich Patientinnen und Patienten mit Zwangsstörungen nicht von gesunden Vergleichsprobanden unterscheiden.“
Das heißt jedoch nicht, dass Vegetarier und Veganer, die Fleisch, Fisch oder sämtliche tierischen Produkte aus philosophisch-moralischen Gründen von ihrem Speiseplan streichen, zum Orthorektiker werden müssen. Selbst ein Hardcore-Veganer, muss nicht an Orthorexie leiden, solange er sein Essen genießt und ausreichend Nährstoffe zu sich nimmt, sodass die Gesundheit nicht beeinträchtigt wird.
Erst, wenn die Beschäftigung mit der Ernährung zu einer ungesunden Obsession mutiert und beginnt, Schaden anzurichten (z.B. eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder der Lebensqualität), kann von einer Orthorexie gesprochen werden. Orthorexie geht häufig mit Leidensdruck, einer verringerte Lebenszufriedenheit und einem geringeren persönlichen Wohlbefinden einher.
Wie die Studienergebnisse von Barthels zeigen, ist die Gefahr, zum Ernährungsfanatiker zu werden, bei diätwilligen Personen, die sich sehr strengen, spezifischen Ernährungsregeln unterwerfen, erhöht. Auch Veganer, die mit dieser Ernährungsweise möglichst schlank werden oder ihr Risiko für Krankheiten verringern wollen, haben ein erhöhtes Risiko, in weiterer Folge der Orthorexie zu verfallen.
Die Fokussierung auf das Essverhalten und die Beschäftigung mit dem ausgeklügelten Speiseplan kann auch zum Ventil für Menschen werden, die sonst wenige Inhalte in ihrem Leben haben und zu Unsicherheit und Selbstzweifeln neigen. Die Ernährungsausrichtung kann persönlichen Halt und Zugehörigkeit bieten, dazu beitragen, das Selbstwertgefühl zu stabilisieren und sich neu zu orientieren.
Obwohl einige Studien zeigen, dass Frauen häufiger von Orthorexie betroffen sind, gibt es auch Stichproben, bei denen Männer signifikant höhere Orthorexie-Werte erreichen, als Frauen. Diese Tatsache unterscheidet die Orthorexie von der Magersucht, die unter weitaus mehr Frauen verbreitet ist.
Gerade Männer im Alter zwischen 30 und 40, die den Druck verspüren, zwanghaft perfekt, ewig jung, gesund, fit und knackig zu bleiben, könnten auf dem Weg hin zu einem sportlichen, gesunden Körper, eine Orthorexie entwickeln. Generell konnte die Mehrzahl der Studien jedoch keinen Zusammenhang zwischen Orthorexia nervosa und dem Alter feststellen.
Zwei deutsche Studien gingen der Frage noch, ob Personen, die sich stärker über Themen, wie Ernährung und Gesundheit informieren (z.B. Diätassistenten oder Studenten der Ernährungswissenschaften), anfälliger für Orthorexie sind.
Bei der Frage „Orthorexia nervosa: eine häufige Essstörung bei Diätassistentinnen?“ zeigen die Studienergebnisse (PDF), dass bei Diätassistentinnen auf der einen Seite relativ oft eine Gefährdung für orthorektisches Verhalten zu finden ist. Auf der anderen Seite kann das orthorektische Verhalten in vielen Fällen als Versuch zur Bewältigung einer schwereren Essstörung gewertet werden.
Die Untersuchung an Studenten der Ernährungswissenschaften zeigte, dass diese im Vergleich zu anderen Studenten zwar eher dazu neigen, ihre Nahrungsaufnahme zur Gewichtskontrolle einzuschränken. Jedoch zeigen sie im Vergleich zu Studierenden anderer Fachrichtungen keine stärkere Neigung zu gestörtem Ernährungsverhalten. Vielmehr gewöhnen sie sich im Verlauf ihres Studiums eine gesündere Auswahl bei Lebensmitteln an und reduzieren die Tendenz zu einem obsessiven Essverhalten. Aus den Studienergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass ein besseres Verständnis von Lebensmitteln nicht unbedingt einen Risikofaktor für Orthorexie darstellen muss und Ernährungsexperten demnach nicht besonders gefährdet sind.
Als Diagnoseinstrument wurde in beiden Studien der ins Deutsche übersetzte Orthorexia Self-Test von Steven Bratman verwendet, welcher auch noch weiter unten zu finden ist. Die Prävalenz bzw. Krankheitshäufigkeit bei spezifischen Personengruppen in Bezug auf Orthorexie ist bei unstandardisierten Messinstrumenten generell kritisch zu sehen.
Überhaupt besteht bei soziodemografische Variablen, wie Alter, Geschlecht oder Bildung, weiterer Forschungsbedarf, um zu untersuchen, in welchem Zusammenhang diese Faktoren mit der Störung stehen. Auch die Frage, ob Orthorexie in allen Kulturkreisen oder nur in westlichen, wohlhabenden Ländern auftritt, bleibt noch unbeantwortet.
Wie wird Orthorexie behandelt?
Handelt es sich bei Orthoexia nervosa um eine eigenständige Störung oder eine Begleiterkrankung? Noch ist nicht sicher, ob es sich bei orthorektischem Ernährungsverhalten um eine eigenständige Erkrankung oder eine komorbide Störung handelt, also eine Erkrankung, die zusätzlich existiert. Entsprechend ist unklar, welche nosologische Klassifikation angemessen ist.
Orthorexie ist bislang nicht als Krankheit definiert. Entsprechend gibt es auch keine Leitlinien, um sie zu behandeln. Die Frage ist auch, ab welchem Punkt ein gesundheitsorientiertes Ernährungsverhalten vorbildlich ist oder einem aktuellen und sinnvollen Trend Ernährungstrend folgt und wann es pathologisch, d.h. krankhaft wird. Auch ist fraglich, wie bei einem orthorektischen Ernährungsverhaltens die grundsätzliche klinische Relevanz des möglichen Störungsbildes zu beurteilen ist.
Aufgrund der fehlenden nosologischen Einordnung und möglichen diagnostischen, sowie dem Mangel an spezifischen Interventionen, bleibt es momentan jedem Behandler selbst überlassen, ob er die Orthorexie als eigenständige Störung anerkennt oder sie als komorbide bzw. begleitende Störung mitbehandelt und welche Therapieverfahren er einsetzt.
Laut Barthels ist orthorektisches Ernährungsverhalten nosologisch am ehesten als eine weitere Form der bisher bekannten Essstörungen zu verstehen, bei der jedoch nicht die Quantität, sondern die Qualität der Nahrungsmittel im Vordergrund steht. Mögliche Folgeerscheinungen, wie soziale Isolation und Mangelernährung deuten auf eine klinische Bedeutsamkeit hin.
Allerdings zeigen Orthrektiker aufgrund der ausgeprägten Ich-Syntonität nur eine geringe Änderungsmotivation. Sie neigen zum dem Gefühl, das eigene Verhalten, das von anderen Personen als Abweichung gesehen wird, selbst nicht als störend, abweichend oder normverletzend zu empfinden. Sie sind davon überzeugt, dass die von ihnen praktizierte Ernährungsweise die einzig Richtige ist und zeigen daher nur eine geringe Einsicht in das möglicherweise gestörte Essverhalten.
Diejenigen, die aufgrund einer sehr einseitigen Ernährung bzw. einer stark eingeschränkte Lebensmittelauswahl bereits Mangel- oder Unterernährungssymptome zeigen, sind schon eher bereit, eine Therapie zu machen. In einigen Fällen ist ein Übertreten in die Anorexie zu beobachten. In der Regel wird Orthorexie als Essstörung behandelt. Die Therapie findet oft in Form von einer gemeinsamen Gruppentherapie mit Anorektikern statt.
Reine Orthorexie-Patienten sind in der Therapie eher selten, da sie ja glauben, gesund zu leben und daher keine Therapie zu benötigen. Eine Bekehrung hin zu lasterhaften Lebensmitteln gestaltet sich daher relativ schwierig. Umgekehrt tritt orthorektisches Verhalten gelegentlich auch bei ehemaligen Magersüchtigen auf, die die Kontrolle über die Nahrungsmenge (Quantität) gegen die Kontrolle der Nahrungsqualität ersetzen.
Neben Essstörungen kann die Orthorexie aufgrund ihrer vielfältigen Symptome auch verschiedenen anderen Störungen, wie Zwangsstörungen, somatoformer Störungen (psychischen Erkrankungen mit unklaren körperlichen Beschwerden), Hypochondrie (übertriebene Angst, krank zu sein oder zu erkranken) oder der zwanghaften Persönlichkeitsstörung zugeordnet werden. Kognitive Fixierung auf gesunde Lebensmittel, Zwangsrituale und Rigorosität der Verhaltensmuster sind nur einige symptomatische Beispiele.
Doch auch wenn das Verhalten von Orthorektikern durchaus Parallelen zu Zwangsstörungen zeigt, gibt es einen entscheidenden Unterschied. Denn der Zwang wird von orthorektischen Patienten nicht als fremdartig bzw. fremdgesteuert empfunden. Dementsprechend halten Betroffene ihr zwangsgestörtes Verhalten auch nicht für unsinnig. Sie könnten anders, wollen aber nicht. Das unterscheidet Orthorektiker im Wesentlichen von Zwangsgestörten, die gerne anders wollen würden, es aber nicht können. Orthorektiker sehen ihr Verhalten als alternativlos.
Wenn gesundes Essen zur Ersatzreligion mutiert ist, eine Art Orientierung bietet und zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls beiträgt, ist es nicht so einfach, diese wieder loszulassen. Der Weg zurück in ein zwangsfreies Verhalten ist lang und beschwerlich.
Betroffene sollten in der Therapie wieder lernen, Essen zu genießen und als etwas Gutes für den Körper zu erleben – ganz ohne Zwänge, Kontrollen und Leistungsansprüche. Geeignete Anlaufstelle sind Psychologen und Psychotherapeuten, die über Erfahrungen mit Ernährungs- und Essstörungen und ggf. Zwangshandlungen verfügen.
Mögliche therapeutische Maßnahmen bei Orthorexie
Bisher existieren für Orthorexie keine Leitlinien zur Therapie. Barthels schlägt vor, dass perspektivisch angestrebt werden sollte, „spezifische psychotherapeutische Interventionen zur Behandlung orthorektischen Ernährungsverhaltens zu entwickeln, falls dieses bei den Betroffenen Leidensdruck hervorruft oder mit erheblichen Mangelerscheinungen einhergeht, die eine Intervention aus medizinischer Sicht erforderlich machen“.
Nach aktuellem Kenntnisstand erscheint eine Kombination von Methoden der klassischen Essstörungstherapie mit Interventionen aus der Therapie für Zwangsverhalten als geeignet, um beide Aspekte des Syndroms therapeutisch bearbeiten zu können.
Grundlage bildet eine ausführliche Psychoedukation mit Ernährungsberatung, die es Betroffenen ermöglichen sollte, einen realistischeren Blick auf den Zusammenhang und Stellenwert von Ernährung und Gesundheit zu erhalten. Eine Liste mit erlaubten/ unerlaubten Lebensmitteln, sowie Ernährungsregeln kann Aufschluss über das Ausmaß des orthorektischen Verhaltens geben.
Neben einer Psychoedukation mit Ernährungsberatung kann auch eine intensive Psychoedukation sinnvoll sein, z.B. wenn nach Konfrontation mit den „verbotenen“ Lebensmitteln unangenehme Körperempfindungen oder Ängste vor späteren, negativen Folgen auftreten. Sie soll helfen, die Angst vor vermeintlich ungesunden Nahrungsmitteln und Erkrankungen, wie Diabetes oder Krebs, abzubauen.
Ziel der Therapie ist es, den Patienten die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krankheiten zu verdeutlichen und die zwanghaften Einstellungen zu diesem Thema aufzuweichen. Entspannungsverfahren und Übungen können helfen, die aufkommende Unruhe in Schach zu halten und Betroffene an ein normales, entspannteres Verhältnis zum Essen heranzuführen.
Bei einigen Orthorektikern nimmt die Erkrankung bereits konkretere hypochondrische Züge, die mit übertriebenen Krankheitsängsten und Sorgen um die eigene Gesundheit einhergehen. Auch diesen sollte im Rahmen der Therapie Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Desweiteren gilt es, die möglicherweise zu rigide Vorstellung von „gesundem Essen“ und einem „gesunden Körper“ durch einen realistischen Gesundheitsbegriff zu ersetzen, welcher in der Therapie gemeinsam mit dem Patienten erarbeitet werden kann.
Als weitere geeignete Techniken nennt Barthels Elemente der kognitiven Therapie, um eine Veränderung kognitiver Muster und damit verbundener Verhaltensweisen zu erreichen.
Dabei steht die aktive Gestaltung des Wahrnehmungsprozesses im Vordergrund, also welche Einstellungen, Gedanken, Bewertungen und Überzeugungen Betroffene mit dem Thema gesunde Ernährung verbinden. Bei Orthorektikern entscheidet nämlich nicht die objektive Realität, sondern die subjektive Sicht über das Verhalten. In der Therapie werden neue Ansichten und Lösungsweise erarbeitet, um den Affekt und das Verhalten zu korrigieren.
Techniken der Euthymen Therapie (Achtsamkeits- und Genusstherapie) können zusätzlich helfen, den Genuss von Lebensmittel wieder weiter in den Vordergrund zu rücken, die Sinne zu schärfen und die Aufmerksamkeit gezielt auf positive Reize (des Lebens) zu lenken.
Auch eine stationäre Behandlung kann sinnvoll und erforderlich sein – insbesondere dann, wenn aufgrund der starken Einschränkung von Lebensmitteln bereits akutes oder drohendes Untergewicht oder eine Nährstoffunterversorgung vorliegt.
In seinem Essay macht Bratman deutlich, worin die Herausforderung bei der Therapie von Essstörungen liegt:
„Wie alle anderen medizinischen Interventionen — wie alle anderen Lösungen für schwierige Probleme — befindet sich Ernährungsmedizin in der Grauzone zwischen Unklarkeit und Fehlerhaftigkeit. Sie ist weder eine simple, ideale Behandlung, wie einige ihrer Befürworter zu glauben mögen, noch die reine Zeitverschwendung, was die konventionelle Medizin viel zu lange zu sein schien. Die Ernährung ist ein vieldeutiges und leistungsfähiges Werkzeug, zu undurchsichtig und von emotionale Bedeutung für das Wohlbefinden, zu mächtig, um sie zu ignorieren.“
Was können Angehörige tun?
Für Angehörige ist es nicht immer leicht zu erkennen, wann ein Familienmitglied einfach nur sehr auf seine Ernährung und Gesundheit achtet und ab wann es krankhaft wird. Eine gesunde Ernährung, regelmäßige sportliche Aktivitäten und Einkäufe in Bio-Märkten sind nicht zwangsläufig Anzeichen für eine Orthorexie.
Erst, wenn die Ernährungsüberzeugungen fanatisch werden, immer mehr Lebensmittel oder ganze Lebensmittel-Gruppen aus dem Speiseplan verschwinden und das Thema Ernährung einen zunehmend großen Teil des Alltags einnimmt, könnte ein orthorektisches Essverhalten vorliegen.
Da Betroffene im festen Glauben agieren, das Richtige zu tun, ihr Verhalten gar nicht ändern wollen und zum Teil anfangen, zu missionieren, ist es für Angehörige und Freunde schwer, ein Umdenken zu bewirken. Dennoch sollte man die Person gezielt ansprechen und einfach fragen, was das Ganze soll. Ob einfühlsam oder mit der Holzhammermethode kann je nach Typ entschieden werden.
Es ist wichtig, den Betroffenen klar zu machen, was sie mit ihrem Verhalten anrichten und was oder wen sie eventuell verlieren. Familienmitglieder, Partner oder Bekannte nimmt eine Sucht oft mehr mit, als den Betroffenen selbst. Statt nur traurig zu sein, zu resignieren oder sich genervt abzuwenden, sollten Angehörige und Freunde geduldig darauf hinwirken, dass Betroffene auch mal von ihrem strengen Ernährungsplan abweichen oder nach einem individuellem Ersatz für den Zwang suchen.
Orthorexie Selbsttest: Habe ich Orthorexie?
Steven Bratman hat in seinem Buch „Health Food Junkies“ einen Orthorexia Self-Test entwickelt. Dieser soll helfen herauszufinden, ob jemand nur auf eine gesunde Ernährung achtet oder bereits eine Besessenheit vorliegt.
Der von Bratman ausschließlich nach inhaltlichen Kriterien entwickelte Orthorexia Self-Test besteht aus 10 Fragen, die jeweils mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden sollen.
Die folgende Tabelle zeigt die vorläufigen Kriterien zur Diagnose orthorektischen Ernährungsverhaltens anhand des Orthorexia Self-Test von Bratman, die hier in Frageform gestaltet wurden:
1. Denke ich mehr als 3 Stunden am Tag über gesunde Ernährung nach? |
2. Plane ich meine Ernährung für den nächsten Tag voraus? |
3. Ist mir die Qualität der konsumierten Lebensmittel wichtiger, als der Genuss beim Essen? |
4. Geht der Anstieg der Qualität der Ernährungsweise mit einer Verringerung meiner Lebensqualität einher? |
5. Ist meine Ernährungsweise mit der Zeit strenger und rigider geworden? |
6. Verzichte ich auf Lebensmittel, die ich früher gerne gegessen habe, um heute die "richtigen" Lebensmittel zu essen? |
7. Empfinde ich ein gesteigertes Selbstwertgefühl, wenn ich gesunde Lebensmittel esse und fühle ich mich gegenüber anderen, die keine gesunden Lebensmittel essen, überlegen? |
8. Empfinde ich Schuld und Selbstablehnung, wenn ich von meiner Ernährungsweise abweiche? |
9. Habe ich mich aufgrund meiner Ernährungsgewohnheiten sozial isoliert? |
10. Habe ich das beruhigende Gefühl totaler Kontrolle, wenn ich mich entsprechend meiner Ernährungsregeln ernähre? |
Fragen nach Bratman S , Knight D . Health Food Junkies: Overcoming the Obession with Healthful Eating. New York : Broadway Books ; 2000 |
Für jede mit „Ja“ beantwortete Frage wird ein Punkt vergeben, sodass maximal 10 Punkte erreicht werden können. Als Klassifizierung schlägt Bratman vor:
- 2 bis 3 Punkte: Verdacht auf Orthorexie
- ab 4 Punkte: Orthorexie
- bei 10 Punkten: dringend Hilfe erforderlich
Nach dem Bratman ist bereits bei zwei bis drei zutreffenden Fragen eine Tendenz zur Orthorexie anzunehmen. Ab vier Punkten wird das Essverhalten als orthorektisch eingestuft. Und wenn alle Kriterien erfüllt sind, ist laut Bratman dringender Handlungsbedarf geboten.
Allerdings zeigen laut Barthels Schätzungen der internen Konsistenz mittels Cronbachs Alpha deutlich, dass der Orthorexia Self-Test und die davon abgeleiteten Verfahren (ORTO-15 und ORTO-11) nicht geeignet sind, um verlässliche Daten zur Prävalenz des orthorektischen Verhaltens zu liefern.
Bratman erstellte den Orthorexia Self-Test für den US-amerikanischen Raum mit dem Ziel, orthorektisches Ernährungsverhalten in seinem Sinne zu messen. Die Messungenauigkeit könnte ein Grund für die sehr hoch ausfallenden Prävalenzschätzungen für orthorektisches Essverhalten sein.
Demnach gibt es laut Barthels Hinweise darauf er, dass die auf Bratmans Orthorexia Self-Test basierenden Fragebögen die Prävalenz orthorektischen Enährungsverhaltens in europäischen Stichproben überschätzen bzw. dass sich in der Messung gesundheitsbewusstes und orthorektisches Ernährungsverhalten überschneiden.
Die mit der Düsseldorfer Orthorexie Skala (DOS) ermittelte Prävalenz in der Gesamtbevölkerung ist mit 1 bis 2 Prozent vergleichsweise niedrig.
Fazit
Essen ist eine schöne Sache – solange man nicht krampfhaft versucht, alles „richtig“ zu machen.
Themen, wie gesunde Ernährung, Gesundheit und Fitness sind allgegenwärtig. Da werden Food Diarys veröffentlicht, Ernährungspläne und Rezepte ausgetauscht, Lebensmittel, Nährstoffe und Kalorien getrackt und Food Challenges bestritten.
Aber was ist gesund, was schädlich? Welche Lebensmittel sind „gut“ und welche „schlecht“ für uns? Die Beantwortung dieser Fragen wird uns nicht immer leicht gemacht. Ernährungstrends, wie „Clean Eating“, „Raw Food“, „Superfoods“ und „Detoxing“, der Hype um regionale Bio-Lebensmittel und vegane Ernährung, sowie regelmäßig auftretende Lebensmittelskandale können für Verwirrung sorgen.
Wer den zweifellos guten und vernünftigen Vorsatz fasst, sich gesund zu ernähren, kann jedoch in Gefahr geraten, eine Obsession für gesundes Essen zu entwickeln. Dieses – wissenschaftlich noch nicht fundiertes Phänomen – heißt in Fachkreisen Orthorexia nervosa.
Orthorektiker entwickeln eine Fokussierung auf gute und schlechte Lebensmittel und ein zunehmend gestörtes Verhältnis zum Thema Ernährung. Wenn die Beschäftigung mit gesunden Lebensmitteln zur Obsession wird, ist Nahrung nicht länger „nur“ Lebensmittel, sondern Lebensmittelpunkt.
Orthorektiker sind absolute Profis in Sachen Ernährungs- und Warenkunde. Sie kennen Nährstoffgehalt, Herkunft und Zubereitung jedes Lebensmittels, das sie essen. Zucker, Weißmehl, Lebensmittel mit Zusatzstoffe bzw. biologisch „unreine“ Nahrung kommen bei Orthorexie-Erkrankten nicht auf den Tisch. Gesundes Essen bietet ihnen den nötigen Halt, um ihre Ziele zu erreichen – sei es, gesünder zu leben, abzunehmen, Erfolg zu haben oder sich besser zu fühlen, als andere.
Neben der vermeintlichen Sicherheit und Kontrolle empfinden Orthorektiker ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber Personen, die sich nicht so „rein“ und „gesund“ ernähren, wie sie. Sie sehen sich als scheinbar gesunde Gegenbewegung.
Die wachsende Zahl an Übergewichtigen (Deutschland als „Land der Dicken“), Lebensmittelskandale (z.B. BSE, Vogelgrippe und Schweinepest), zweifelhafte Werbeaussagen, Unverträglichkeiten gegen Gluten, Laktose und Fruktose, Lebensmittelallergien, der anhaltende Schönheitswahn, der aktuelle Fitnesstrend, Ernährungstrends (Clean Eating, Vegan, Bio und regional), angepriesene Superfoods (Chia-Samen, Goji-Beeren, Fischöl, Algen, Hanfsamen & Co.), sowie die Flut an Güte- und Prüfsiegeln, wirken dabei als Verstärker.
Kein Wunder, dass es gesundheitsbewussten Verbrauchern zunehmend schwerer fällt, einen unverkrampften Umgang mit Lebensmitteln zu bewahren. Doch nicht jeder, der Lebensmittel vergleicht und sich bewusst gesund ernährt, läuft automatisch Gefahr zum Orthorektiker zu mutieren.
Erst die Fokussierung und das stark zwanghafte Verhalten auf „gute“ und „schlechte“ Lebensmittel kann problematisch werden. Zwar resultieren daraus in den meisten Fällen keine ernsthaften Gesundheitsschäden, doch wenn Gesundheitsaspekte bei der Menüplanung dazu führen, dass andere wichtige Lebensbereiche, wie etwa soziale Kontakte, vernachlässigt werden. Spätestens, wenn die Leidenschaft für gesundes Essen Leiden schafft, ist Handlungsbedarf geboten. Orthorektiker neigen dazu, in ihrer eigenen idiologischen Ernährungswelt zu verharren. Der Blick über den Tellerrand gelingt nicht mehr.
Ein Kommentar von einer gewissen Emily auf Steven Bratmans Website veranschaulicht die Störung meiner Meinung nach ziemlich gut:
„Essen ist eine mächtige Substanz – so mächtig, wie jede Droge oder spirituelle Erfahrung. Ich glaube, dass Orthorektiker an derselben Sache leiden, wie Fast-Food-Süchtige und übermäßige Esser: Ziellosigkeit. Wir alle brauchen ein Ziel in unserem Leben: dieses Ziel kann in unserer Karriere, Beziehungen und spirituellen Disziplinen gefunden werden. Wir brauchen Bewegung, nicht nur der Anstrengung willen oder um abzunehmen, sondern um einen klaren Kopf zu bekommen, unseren Spaß an unserem Körper und seine Möglichkeiten zu haben und die Natur zu zelebrieren. Wenn wir unglücklich sind oder uns zu sehr auf einen dieser Bereiche konzentrieren, verlieren wir die Balance. Und das, was wir essen, ist fast immer betroffen.“
Die Forschung hat sich bislang kaum mit den Ursachen von Orthorexie befasst. Demnach gibt es noch fast keine gesicherten Erkenntnisse. Man nimmt an, dass die Störung oft im Zuge einer Ernährungsumstellung beginnt und Berichte über aktuelle Lebensmittelskandale und neue Diät- und Ernährungsformen einerseits die Angst vor „kontaminierten“ Lebensmitteln schüren und andererseits die übertriebene Fixierung auf „gesunde“ Lebensmittel fördern.
Zu den Risikogruppen zählen u.a. Personen, die professionell mit dem Thema Ernährung zu tun haben, aber auch Personen, die sich intensiv mit der Gesundheit beschäftigen und denen die Einhaltung von Normen wichtig ist. Zur Verbreitung der Störung gibt es bislang widersprüchliche Ergebnisse. Die Düsseldorfer Orthorexie-Skala geht davon aus, dass etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung vom Vollbild der Störung betroffen sind, während die Prävalenzraten des mittels Bratmans Orthorexia Self-Test deutlich höher ausfallen.
Inwiefern soziodemografische Variablen, wie Alter, Geschlecht oder Bildung mit der Störung im Zusammenhang stehen und ob Orthorexie in allen Kulturkreisen auftritt, wurde bislang noch nicht ausreichend erforscht.
Ob subklinisch oder klinisch manifest – fest steht, dass ein orthorektisches Ernährungsverhalten durchaus krankhaft und schädigend sein kann. Zu den möglichen negativen Folgeerscheinungen zählen u.a. soziale Isolation, kognitive Fixierung und Zwangsrituale. Bei starker Einschränkung der Lebensmittel kann es auch zu Mangelernährung und unerwünschtem Gewichtsverlust kommen.
Noch ist sich die Forschung nicht einig, ob es sich bei Orthorexie um ein eigenständiges Krankheitsbild oder eine komorbide Störung handelt. Einige Ärzte sehen ein orthorektisches Essverhalten als Marotte an, während andere sie als Vorstufe zur Magersucht werten oder als Zwangsstörung interpretieren. Auch wird die Orthorexie aufgrund ihrer vielfältigen Symptomatik z.T.der Kategorie der somatoformen Störungen, aber auch der Hypochondrie oder der anamkastischen Persönlichkeitsstörung zugeordnet.
Laut Barthels ist orthorektisches Ernährungsverhalten eher als eine Variante der bisher bekannten Essstörungen zu verstehen, wobei der Fokus nicht auf Gewichtsregulation, sondern auf gesunder Ernährung liegt.
Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Zuordnung kommt die Orthorexia nervosa (derzeit) weder in den Diagnosektierien des ICD 10 der WHO, noch dem DSM-5 der American Psychiatric Association (APA) vor. Sinnvolle therapeutische Maßnahmen stellen die (kognitive) Verhaltenstherapie sowie Ernährungsberatung und Psychoedukation dar.
Noch bleibt es Ärzten, Alternativmedizinern, Ernährungsberatern und Psychotherapeuten selbst überlassen, wie sie ein orthorektisches Ernährungsverhalten einordnen und behandeln. Orthorexie ist im klinischen Alltag zwar bekannt, aber laut Barthels nicht in besonderes hohem Ausmaß relevant oder häufig, sodass die meisten therapeutisch Tätigen nur wenig darüber wissen.
Neben der ausführlicheren Erforschung des möglichen Störungsbildes und der Klärung der möglichen nosologischen Einordnung ist es daher wichtig, die Behandler über orthorektisches Ernährungsverhalten zu informieren, sodass sie den Unterschied zwischen gesunder Ernährung und zwanghaftem „Gesundessen“ erkennen und Betroffenen Hilfe anbieten können.
Es ist daher unumgänglich, das sich Wissenschaftler und Kliniker stärker mit der Erkrankung befassen, um orthorektisches Ernährungsverhalten per Definition her einzugrenzen, geeignete Screening-Instrumente mit guten testpsychologischen Eigenschaften zur Verfügung zu stellen, sowie störungsspezifische Manuale und Interventionen zu entwickeln.
Der Bratman Test für Orthorexie kann einen ersten Anhaltspunkt darüber liefern, ob jemand an nur auf eine gesunde Ernährung achtet oder bereits eine Besessenheit entwickelt. Habe ich Orthorexie? Um das herauszufinden, sollte man sich laut Steven Bratman folgende Fragen stellen:
- Erscheint dir gesunde Nahrung als primäre Quelle für Glück und Lebenssinn, auch Spiritualität?
- Bewirkt deine Ernährung, dass du dich im Vergleich zu anderen Menschen besser fühlst?
- Wirkt deine Ernährung störend auf deine Arbeit oder Beziehungen zu Freunden oder Familie?
- Benutzt du reine Lebensmittel, wie ein Schwert und Schild, um Ängste abzuwehren – nicht nur in Bezug auf gesundheitliche Probleme, sondern alles, was dich unsicher macht?
- Helfen dir Lebensmittel, dir ein Gefühl von Kontrolle zu geben, die über das normale, sinnvolle Maß hinausgeht?
- Musst du deine Ernährungsweise beibehalten, um immer und immer wieder denselben Kick zu verspüren?
- Fühlst du ein zwanghaftes Bedürfnis, dich zu reinigen, wenn du nur minimal von der von dir gewählten Ernährungsform abweichst?
- Hat dein Interesse an gesunder Ernährung frühere, angemessene Grenzen erweitert, um zu einer Art Gehirn-Parasiten zu werden, der dein Leben steuert, anstatt deine Ziele zu fördern?
Mit „Ja“ beantwortete Fragen können – je nach Anzahl – darauf hindeuten, dass es sich nicht mehr nur um eine gesunde Ernährungsweise handelt, sondern bereits ein orthorektischen Essverhalten vorliegt oder vorliegen könnte.
Letztendlich sollte eine gesunde Ernährung einen positiven Effekt auf die Gesundheit und das Wohlbefinden haben, ohne dabei die Freude am Leben und geselligem Beisammensein einzuschränken.
Ich möchte diesen Artikel mit den letzten Worten Steven Bratmans aus seinem Orthorexie Essay von 1997 abschließen:
„Essen, egal wie rein es ist, kann nicht den Platz in deiner Seele füllen, die sich nach Liebe und spirituelle Erfahrung sehnt. Wenn du es für diesen Zweck verwendest, könntest du auf deiner Reise auf Abwege geraten. Vielleicht können die Inhalte auf dieser Seite, inklusive meiner gelegentlichen Blogposts, hilfreich sein. Du kannst auch mein Buch Health Food Junkies lesen. Falls du das Gefühl hast, deinen Zustand nicht mehr aus eigener Kraft in den Griff zu bekommen, solltest du aber vor allem einen Spezialisten für Essstörungen aufsuchen, der Orthorexie versteht.“
Bettina Schulz meint
Sehr schöner Artikel, gut recherchiert ! Habe einige Patientinnen und Patienten bereits in meiner Praxis für Ernährungstherapie gesehen. Nur in Begleitung einer Psychotherapie ist eine Änderung des Verhaltens möglich.
BS