„Du bist viel zu dünn!„, „Iss doch mal was!“ oder „Hast du eine Schilddrüsenüberfunktion?“ – wer auffallend dünn durch die Welt geht, bekommt so manche Kommentare an den Kopf geworfen.
Dabei ist die Grenze zwischen sehr schlank und krankhaft dürr fließend. „Superskinny“ wird regelmäßig zum Trend hochsterilisiert und gilt nicht nur in Hollywood als „chic“. Abercrombie & Fitch führt seit neustem Jeansgröße Triple Zero (000). Auch die „Thigh Gap“, ein Spalt zwischen den Oberschenkeln bei geschlossenen Beinen, kann vielen nicht groß genug sein.
Während einige von Natur aus sehr dünn sind und gerne einige Pfunde zunehmen würden, jagen andere einem fiktiven Schlankheitsideal hinterher – leider oft zulasten der eigenen Gesundheit.
Doch wer denkt schon an seine Gesundheit, wenn er sich zu dick fühlt? Der seelische Druck insbesondere junger Frauen ist durch die sozialen Medien und die immer präsenten, scheinbar perfekten Körper noch stärker geworden.
Was mit einer harmlosen Diät beginnt, kann schnell in Kontroll- und Disziplinwahn ausarten. Dann können die Beine nicht dünn genug, der Bauch nicht flach genug und das Körpergewicht nicht niedrig genug sein. Das krankhafte Bedürfnis abzunehmen kann sich jedoch zu einer psychischen Störung entwickeln, der Magersucht (Anorexia nervosa).
Trotz Untergewicht empfinden Magersüchtige sich selbst als zu dick, da sie i.d.R. an einer gestörten Selbstwahrnehmung leiden. Auch wenn der Körper bereits bis auf die Knochen abgemagert ist, werden Magersüchtige immer weiter versuchen, Gewicht zu verlieren. Das kann bis zum Tod führen.
In Deutschland ist die Magersucht die am weitesten verbreitete Essstörung. Schätzungen für die erwachsene Bevölkerung gehen davon aus, dass hierzulande 0,5 bis 1 Prozent der Frauen und Männer an Magersucht leiden. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung tritt Magersucht zwar relativ selten auf, allerdings ist die Tendenz seit den siebziger Jahren steigend.
Am häufigsten ist die Altersgruppe von 14 bis 18 Jahren kommt Magersucht am häufigsten vor, wobei wesentlich mehr Mädchen als Jungen betroffen sind.
Im Jahr 2012 wurden in deutschen Krankenhäusern rund 7.000 Fälle von Anorexie diagnostiziert und 70 Todesfälle aufgrund von Essstörungen gezählt. Magersucht hat die höchste Sterblichkeitsrate von allen psychischen Erkrankungen.
Magersucht: Mehr als nur Appetitlosigkeit
Während „Anorexie“ der medizinische Fachbegriff für Appetitlosigkeit (gleich welcher Ursache)ist, beschreibt „Anorexia nervosa“ die psychisch bedingte Sonderform der Anorexie. Der Begriff „Anorexie“ wird jedoch häufig synonym zur medizinisch korrekten Bezeichnung „Anorexia nervosa“ verwendet.
Aus dem lateinischen und griechischen abgeleitet bedeutet Magersucht bzw. Anorexia nervosa etwa „nervlich bedingte Appetitlosigkeit„. Die Abgrenzung der Magersucht zur Appetitlosigkeit liegt in den psychischen Ursachen der Essstörung.
Obwohl die Nahrungsaufnahme erheblich eingeschränkt wird, leiden Magersüchtige nicht an Appetitlosigkeit. Im Gegenteil: Sie verspüren meist sogar sehr großen Appetit, zügeln diesen aber.
Die Angst zuzunehmen ist so groß, dass der Hunger verleugnet und das Essen streng kontrolliert wird. Frei nach dem Motto „dünn, dünner, am dünsten“ werden Kalorientabellen studiert, die Nahrungszufuhr immer stärker eingeschränkt und zusätzliche Sporteinheiten absolviert.
Magersüchtige ergreifen die unterschiedlichsten Maßnahmen, um extrem an Gewicht zu verlieren bzw. das extrem niedrige Körpergewicht später zu halten. Die Befürchtung, wieder „dick“ zu werden, ist tief verankert und immer präsent.
Der Kopf herrscht über den Körper und führt bei Magersüchtigen häufig zu ungewöhnlichen Verhaltensweisen. Dazu zählt zwanghaftes Einkaufs- und Essverhalten, bei dem die Zutatenlisten haargenau studiert, der Nährwertgehalt verglichen, Lebensmittel bis auf das Gramm genau abgewogen und Kalorien penibel dokumentiert werden.
Essen wird immer mehr zum Ritual. Betroffene essen dann z.B. nur zu ganz bestimmten Uhrzeiten, nur ganz bestimmte Lebensmittel und kauen jeden Bissen soundso oft. Solch kontrollierte und zwanghafte Verhaltensweisen können sich auch auf andere Lebenssituationen, wie die Körperhygiene und das Aufräumen ausweiten.
Typisch, wenn auch widersprüchlich für diese Essstörung ist, dass Magersüchtige sich häufig mit Themen, wie Kochen und Backen beschäftigen, Rezepte sammeln und Essen für Freunde und Angehörige zuzubereiten. Mit dem Unterschied, dass sie selbst nichts davon essen (nicht einmal abschmecken oder probieren), sondern anderen nur beim Essen zuschauen.
Durch die Verweigerung der Nahrungsaufnahme und das ungewöhnliche Essverhalten wird ein extremer Gewichtsverlust herbeigeführt und das niedrige Gewicht reguliert. Viele Magersüchtige sind stolz auf ihre Disziplin und das extreme Untergewicht, welches sie ganz alleine herbeigeführt haben. Es gibt ihnen ein Gefühl von Kontrolle, Eigenständigkeit und Unabhängig.
Während andere sich vergeblich abmühen, einige Pfunde zu verlieren, schaffen sie es, sich beim Essen zurückzuhalten, um extrem dünn zu werden und zu bleiben. Die hart erkämpfte „Leistung“ auf der Waage treibt Magersüchtige in ihrem Vorhaben noch mehr abzunehmen, weiter an. Eine höhere Zahl würde schließlich einer Niederlage gleichkommen.
Der Kampf zwischen Kopf, Körper und Waage wird nicht auf der großen Bühne ausgetragen. Magersüchtige wollen einerseits Anerkennung, versuchen aber anderseits, den starken Gewichtsverlust (z.B. durch den „Zwiebellook“) zu verbergen. Insbesondere Mädchen und junge Frauen befürchten aufzufallen, Diskussionen mit ihren Eltern ausgesetzt und eventuell sogar zum Essen gezwungen zu werden.
Da viele Magersüchtige ihren Körper als Feind erleben und ihn bekämpfen, ist der Zugang zu ihrer Gefühlswelt für Außenstehende schwer möglich.
Wie wird man magersüchtig?
Es ist unwahrscheinlich, dass man sich explizit vornimmt, magersüchtig zu werden.
Magersucht beginnt oft harmlos. Zunächst will man einfach nur ein paar Kilo abnehmen. Durch Verzicht auf Süßigkeiten und regelmäßige Sporteinheiten stellen sich die ersten Erfolge auf der Waage ein. Dieses Erfolgserlebnis und Komplimente von Familienangehörigen und Freunden motivieren, weiter am Ball zu bleiben.
In der Anfangsphase unterscheiden sich Menschen, die nur eine Diät machen wollen nicht sonderlich von Magersüchtigen. Menschen mit gesunder Körperwahrnehmung beenden ihre Diät jedoch, sobald das Wunschgewicht erreicht ist. Sie kehren dann entweder zu ihren gewohnten Ernährungsgewohnheiten zurück oder stellen ihre Ernährung auf gesündere Essgewohnheiten um.
Magersucht Betroffene hungern immer weiter . Ist das anfängliche Wunschgewicht erreicht, wird ein neues, noch niedrigeres Zielgewicht festgelegt. Das Wort „Magersucht“ beschreibt die Krankheit daher weitaus besser, als „Anorexia“ bzw. Appetitlosigkeit, das sie Betroffenen wortgemäß eine Sucht entwickeln, immer magerer zu werden.
Um noch weiter abzunehmen, werden auch die Maßnahmen verschärft. Zunächst werden kalorien- und fettreiche Lebensmittel vom Speiseplan verbannt. Plötzlich spielen Kalorien und Nährwerte eine wichtige Rolle. Da werden Nährwerttabellen studiert, Lebensmittel verglichen und abgewogen. Alles, was potentiell dick machen könnte, muss vermieden werden.
Mit der Zeit bestimmen die Gedanken an Essen, Nicht-Essen und Gewicht den Alltag. Irgendwann besteht der Speiseplan aus zwei grünen Äpfeln und einem Magermilchjoghurt. Wer erstmal im Teufelskreis aus immer weniger Nahrung und immer niedrigerem Körpergewicht feststeckt, hat es schwer, wieder rauszukommen.
Das würde ja heißen, man müsste wieder mehr essen und auch die Waage würde wieder größere Zahlen anzeigen – der Albtraum von Magersüchtigen! Hinzu kommt, dass Magersüchtige oft ehrgeizig sind und einen hohen Leistungsanspruch haben. Sie wollen – auch auf der Waage – Bestleistungen bringen. Die Gewichtsabnahme suggeriert Magersüchtigen ein Gefühl der Kontrolle und bestätigt sie in ihren Leistungen.
Das Streben nach Perfektion und die sehr hohe Ansprüche an sich selbst führen schließlich dazu, dass sie ihrem Körper immer mehr zumuten und über ihre Grenzen hinausgehen. Dabei kann der körperliche Zustand durch die extreme Diät lebensbedrohlich werden.
Magersüchtige wissen das, hungern aber trotz gesundheitsschädlicher und bedrohlicher Ausmaße ihres niedrigen Körpergewichts immer weiter.
Anzeichen: Was ist typisch für Magersucht?
Dünn oder magersüchtig? Die Diagnose ist nicht immer einfach, da Betroffene selbst meist nicht erkennen bzw. einsehen, dass sie magersüchtig sind. Durch geschicktes Verleugnen und Verstecken der Krankheit merken selbst Eltern und Freunde im Anfangsstadium der Erkrankung häufig nichts.
Für Mediziner liegt die kritische Gewichtsgrenze bei 15 Prozent unterhalb des niedrigsten Normalgewichts. Das Normalgewicht liegt bei einem Body Mass Index (BMI) zwischen 20 und 25. Die konkrete Gewichtszahl hängt von diversen Faktoren, wie Alter, Körpergröße und Geschlecht ab.
Die vereinfachte BMI-Formel lautet: Gewicht in Kilogramm (kg)/Körpergröße (m)². Als weiteres Diagnosekriterium können auch Personen mit einem BMI unter 17,5 als magersüchtig bezeichnet werden. Ein Body Mass Index unter 17,5 entspricht ausgeprägtem Untergewicht.
Beispiel: Bei einer Körpergröße von 1,70 m liegt das niedrigste Normalgewicht (BMI=20) bei etwa 58 kg. Die kritische Gewichtsgrenze (-15 Prozent) beträgt in dem Beispiel demnach rund 49 kg. Ein BMI unter 17,5 ist bereits bei einem Körpergewicht von etwas über 50 kg erreicht.
Zudem weisen Betroffene folgende Charakteristika auf:
Verzerrte Körperwahrnehmung:
Magersüchtige empfinden sich meist als zu dick, wenn nicht gar „fett“, auch wenn schon deutliches Untergewicht besteht und die Kleidung am ausgezehrten Körper schlottert.
Die meisten Betroffenen überschätzen den eigenen Körperumfang. Sie haben eine sogenannte „Körperschemastörung“. Was das Spiegelbild und die Waage zeigen, spielt keine Rolle. Der eigene Körper wird völlig verzerrt wahrgenommen.
Viele fokussieren sich auf einzelne Körperteile, wie den Bauch, die Oberschenkel oder die Hüften. Sie empfinden den eigenen Körper als Feind, haben keinen Bezug bzw. Kontakt zu ihm und den eigenen Bedürfnissen. Daher erkennen sie die extreme und lebensbedrohliche Abmagerung ihres Körpers nicht. Selbst eindeutige Körpersignale werden einfach nicht wahrgenommen.
Fehlende Krankheitseinsicht:
Betroffene leugnen, gefährlich dünn zu sein. Da ihre Körperwahrnehmung verzerrt ist, gibt es praktisch keine Beweise, die sie vom Gegenteil überzeugen könnte. Ob Waage oder Spiegelbild, Körperumrisse oder der direkte Vergleich mit anderen schlanken Personen – ein Magersüchtiger ist nur schwer davon zu überzeugen, dass er krank ist.
Nicht selten werden solche „Überzeugungsversuche“ als Neid oder Versuch gewertet, wieder „gemästet“ zu werden. Frei nach dem Motto „Alle wollen, dass ich wieder zunehme und fett und hässlich werde“.
Angst vor Gewichtszunahme:
Magersüchtige haben unbegründete Angst, ja gar Panik, „fett“ zu sein bzw. zu werden. Sie leiden an einer sogenannten Gewichtsphobie. Selbst wenn sie nur noch sehr wenig wiegen und kaum noch etwas essen, ist die Angst einer Gewichtszunahme ständig präsent, lebensbestimmend und tief verankert. Betroffene streben beharrliche danach, immer dünner zu werden. Dieses Ziel steht in ihrem Leben im Vordergrund.
Selbst wenn sie schon spindeldürr und halb verhungert sind, käme jedes Gramm mehr einer Niederlage gleich, die bei Magersüchtigen regelrechte Panik auslöst. Jedes verlorene Gramm hingegen wird als ein kleiner Sieg gefeiert.
Gedanken kreisen ständig ums Essen:
Essen nimmt im Leben Magersüchtiger einen zentralen Stellenwert ein. Die Gedanken Magersüchtiger kreisen ständig ums Thema Lebensmittel, Kalorienzählen und kalorienarme Nahrungszubereitung. Oftmals reden Betroffene permanent über Lebensmittel, Rezepte und Diäten. Sie schauen sich Kochsendungen im Fernsehen an, sammeln Rezepte usw.
Essen wird zum Hauptthema Nr. 1. Magersüchtige wälzen Kalorientabellen und halten sich länger als üblich im Supermarkt auf, um die Nährwerte zu vergleichen und das kalorienärmste Produkt zu finden.
Leugnen von Hungergefühl:
Viele Magersüchtige kochen viel und gerne für andere und animieren sie zum Essen, ohne selbst zu essen. Sie leugnen ein Hungergefühl, indem sie angeben bereits gegessen zu haben (Krümel auf dem Teller), keinen Appetit zu haben oder auf dem Zimmer zu essen, weil sie noch zu lernen haben. Oder sie täuschen eine Nahrungsaufnahme vor, indem sie kauen und das Essen heimlich wieder ausspucken.
Für andere ein Festmahl zuzubereiten, sie zum Essen zu verleiten und ihnen dabei zuzuschauen ist eine Art Ersatzbefriedigung. Selbst aber essen sie – obwohl sie Hunger verspüren – nur ein Minimum und meist nicht in Gesellschaft, sondern alleine.
Exzessive Gewichtskontrolle:
Die Waage ist eine wichtige Kontrollinstanz. Viele Magersüchtige wiegen sich mehrmals täglich und protokollieren jedes zu- bzw. abgenommene Gramm. Zusätzlich werden Erfolge mit Markierungen an Maßbändern und Gürteln oder anhand bestimmter Kleidungsstücke erfasst.
Einige Magersüchtige probieren in Geschäften regelmäßig neue Hosen einer bestimmten Marke und Größe an, ohne sie zu kaufen – nur um zu sehen, ob sie abgenommen haben. Eigene Kleidungsstücke, mit denen das Gewicht kontrolliert wird, werden nie oder nur kalt gewaschen, um eine Größenänderung und damit den Kontrollmaßstab zu vermeiden.
Kontrolliertes Essverhalten:
Häufig leben Magersüchtige nach bestimmten Essensregeln. Viele teilen Nahrungsmitteln in „erlaubt“ und „verboten“ ein. Grundsätzlich werden kalorienarme Lebensmittel und Getränke bevorzugt. Viele Magersüchtige bevorzugen breiige Kost, wie Baby- oder Kindernahrung.
Die Lebensmittelauswahl wird immer weiter eingeschränkt und zunehmend einseitiger. Zunächst wird nur Zucker, dann Fett, dann die Kohlenhydrate vom Speiseplan verbannt. Irgendwann hat selbst ein Apfel zu viele Kalorien. Gleichzeitig wird die Kalorienzufuhr (immer weiter) reduziert. Die Ernährung ist kopf- und nicht mehr bedürfnisgesteuert. Jede verzehrte Kleinigkeit wird registriert bzw. dokumentiert.
Zudem sind Rituale beim Essen zu beobachten, z.B. eine extrem langsame Nahrungsaufnahme oder das Zerteilen selbst kleinster Nahrungsmengen. Die kleinen Bissen werden auf den ganzen Teil aufgeteilt und meist heimlich und alleine verzehrt.
Maßnahmen zur Gewichtsreduktion:
Magersüchtige versuchen alles, um noch mehr Gewicht zu verlieren. Dafür nehmen sie nur kalorienarme Lebensmittel in geringen Mengen zu sich. Neben der Kalorienreduktion wird z.B. durch den Verzehr von extrem heißen oder extrem kalten Speisen versucht, noch mehr Kalorien zu verbrauchen, da der Organismus die Nahrung erst auf Körpertemperatur kühlen bzw. erwähren muss.
Einige erbrechen sich, um die Kalorien wieder loszuwerden oder nehmen Medikamente, wie Appetitzügler, Abführmittel und Entwässerungstabletten. Typ-1-Diabetikerinnen mit Magersucht manipulieren unter Umständen sogar ihre Insulindosis.
Übertriebener Bewegungsdrang:
Betroffene haben einen übertriebenen Bewegungsdrang, den man auch als Hyperaktivität bezeichnen kann. Magersüchtige treiben übermäßig viel Sport (auch bei Erschöpfung, Krankheit oder Verletzung) und das oft mehrere Stunden am Tag. Ob Joggen, Walken, Radfahren, Schwimmen oder Aerobic – Hauptsache es werden möglichst viele Kalorien verbrannt.
Sie machen vieles im Stehen, setzen sich Kälte aus und tragen zusätzliche Lasten (z.B. schwere Taschen, Rucksäcke, Gewichte) mit sich. Jede Ruhepause wird vermieden und auch die Schlafphase auf ein Minimum reduziert.
Verleugnung von Bedürfnissen:
Hunger, Durst, Ruhe, Erholung, Entspannung, Schlaf, soziale Kontakte – Magersüchtige verleugnen all diese Bedürfnisse. Der Kopf herrscht über den „bedürftigen“ und „gierigen“ Körper, der bekämpft werden muss. Die Lebensweise vieler Magersüchtiger ist ausgesprochen spartanisch. Sie gönnen sich weder Entspannung, noch Beschäftigungen, die Spaß machen.
Mit der Zeit werden die körpereigenen Bedürfnisse kaum noch wahrgenommen.
Leistungsorientiertes Verhalten:
Magersüchtige neigen oftmals zu leistungsorientiertem Verhalten und vergleichen sich gerne mit anderen. Sie sind motiviert und verfügen über ein gesteigerten Pflicht- und Verantwortungsbewußtsein.
Bei jungen Magersüchtigen handelt es sich i.d.R. um normal bis überdurchschnittlich begabte Jugendliche, die in der Schule gute Noten zeigen. Dennoch leiden viele unter Versagensängsten und nötigen sich Bestleistungen ab.
Der Hang zum Perfektionismus äußerst sich nicht nur bei allgemeinen Leistungen in der Schule, im Beruf, Hobby oder Privatleben, sondern auch bei der Sicht auf den eigenen Körper. Auch dieser muss perfekt sein.
Die Kontrolle über das eigene Körpergewicht und der Stolz, den „bedürftigen“ Körper im Griff zu haben und allerlei Gelüsten zu widerstehen, wird als Triumph erlebt. Das Selbstwertgefühl wird immer stärker von der Kontrolle über das Körpergewicht abhängig gemacht.
Zwanghaftes Verhalten
Neben dem Essverhalten können bei Magersüchtigen auch andere Verhaltensweisen zwanghaft werden. Dazu zählen z.B. übertriebene Körperpflege, besondere Sauberkeit, ausgeprägter Ordnungssinn oder extreme Sparsamkeit, aus der sich Geiz entwickeln kann. Zwänge können sich auch im Kontrollieren und Sammeln Dingen äußern.
Sozialer Rückzug
Im Verlauf der Erkrankung ziehen Magersüchtige sich immer mehr zurück. Weder Eltern, noch Geschwister oder Freunde finden noch einen richtigen Zugang zum Seelenleben der Betroffenen.
Soziale Kontakte, wie Treffen mit Freunden, werden seltener. Auch werden Mahlzeiten im Familienkreis bzw. in Gesellschaft vermieden, um nicht aufzufallen oder zum Essen gezwungen zu werden.
Psychische Veränderungen
Magersüchtige befinden sich in einem Teufelskreis. Die panische Angst zuzunehmen und das die strengen Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung zehren an den Kräften. Auch für das Unterdrücken des Hungergefühls wird viel Energie verwendet.
Neben den körperlichen Veränderungen sind auch psychische Veränderungen zu beobachten. Im Kopf kreisen alle Gedanken nur noch ums Essen bzw. Nicht-Essen, neue Ausreden, Tricks & Co.
Betroffene neigen zu Schwarz-Weiß-Denken und machen ihre Stimmung vom Körpergewicht abhängig. Bei einer Gewichtszunahme von bereits wenigen Gramm sind sie am Boden zerstört. Dabei kann diese aufgrund des gesenkten Energieverbrauch bereits nach recht geringer Nahrungsaufnahme eintreten.
Das Gefühl, versagt zu haben, führt nur dazu, dass Magersüchtige ihr Essverhalten jetzt noch strenger kontrollieren. Aus permanenter Gewichtskontrolle und immer strengenen Maßnahmen zur Gewichtsreduktion entsteht ein regelrechter Teufelskreis, der an Körper und Nerven zehrt.
Magersüchtige zeigen daher nicht selten depressive Verstimmungen und starke Reizbarkeit. Auch Selbstmordgedanken können hinzukommen.
Magersucht: Klassische Symptome
Die aufgezählten typischen Merkmale können Indikatoren für eine Magersucht sein. Viele davon zählen auch zu den klassischen Symptomen.
Die meisten Erkrankten leiden an einer Körperschemastörung (Dysmorphophobie) und halten sich trotz Untergewichts für zu dick. Sie können ihr Körpergewicht nicht realistisch einschätzen.
Zudem treten Störungen des Essverhaltens auf. Magersüchtige lehnen die Nahrungsaufnahme ab, beschäftigen sich jedoch sehr stark mit dem Thema.
Die Sucht mager zu sein geht mit der Angst einher, dick zu sein. Die verzerrte Körperwahrnehmung, verbunden mit dem Wunsch nach übertriebener Schlankheit und der krankhaften Angst, an Gewicht zu zunehmen, bilden die Eckpfeiler der Anorexia nervosa.
Infolge dessen versuchen Magersüchtige alles, um ihr angeblich hohes Körpergewicht, zu reduzieren. Die selbst herbeigeführte Gewichtsabnahme ist das Kennzeichen der Anorexia nervosa.
Der Gewichtsverlust wird durch durch sehr kleine Nahrungsmengen und extrem kalorienarme Lebensmittel herbeigeführt. Die Nahrungsaufnahme wird strikt kontrolliert, in einigen Fällen sogar gänzlich verweigert. Auch andere Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung, wie exzessive sportliche Betätigung, Erbrechen und der Einsatz von Medikamenten können bei anorektischen Patienten hinzukommen.
Das auffälligste Symptom der Magersucht ist der Gewichtsverlust infolge der Nahrungseinschränkung oder absoluter Nahrungsverweigerung. Dieser kann bis zu einer krankhaften, sehr starken Abmagerung (Kachexie) reichen. Magersüchtige verlieren im Durchschnitt 45 bis 50 Prozent ihres Ausgangsgewichts. Viele magern bis auf 30 kg ab.
Zu den markanten psychischen Symptomen zählt die große Angst vor einer Gewichtszunahme. Doch auch körperliche Veränderungen, wie Entwicklungsstörungen, hormonelle Störungen, Herz-Kreislaufstörungen, Störungen im Magen-Darm-Trakt, Osteoporose, Nierenschäden, Haarausfall, Zahnschäden etc. können als Folgen der Anorexie auftreten (siehe weiter unten unter „Folgen der Magersucht“).
Wie wird die Diagnose „Magersucht“ gestellt?
Magersucht ist eine seelische Erkrankung. Daher ist nicht jeder, der starkes Untergewicht hat, automatisch magersüchtig.
Trotzdem ist für die Diagnose „Anorexia nervosa“ nicht nur ein psychopathologischer Befund entscheidend. Vielmehr müssen die Ergebnisse verschiedener – auch körperlicher – Untersuchungen zusammengetragen und bewertet werden.
Viele der genannten Symptome werden bereits bei einer körperlichen (klinischen) Untersuchung offenbart. Hierbei wird die Patientin/ der Patient gewogen, gemessen und an einzelnen Körperpartien bzw. Körperregionen abgetastet, abgeklopft und abgehört. Ergänzend erfolgen paraklinische Untersuchungen, wie das Elektrokardiogramm (EKG) und die Analyse des Blutbildes im Labor.
Zusätzlich wird im Rahmen der Anamneseerhebung ein psychopathologischen Befund erstellt. Dieser wird durch einen Arzt oder psychologischen Psychotherapeuten erhoben und ist i.d.R. in einen freien und einen strukturierten Teil untergliedert.
Ziel des freien Teils der Untersuchung ist es, einen Eindruck von der Persönlichkeit, den Beschwerden und dem allgemeinen psychischen Zustand des Patienten zu erlangen. Im Gespräch kann z.B. herausgefunden werden, ob der Betroffene magersüchtig ist und ob auch Familienangehörige bzw. der Partner an einer Essstörung leidet.
Im strukturierten Teil werden dann hauptsächlich geschlossene, zielgerichtete Fragen gestellt. Möglicherweise wird man gebeten, einen speziellen Fragebogen auszufüllen. Der Arzt oder Psychologe wird hierbei das Essverhalten und konkrete Symptome abfragen, sich aber auch nach der Kindheit, der Familie, Beziehungen und besonderen Ereignissen im Leben erkundigen. Im Rahmen des psychopathologischen Befunds werden typische Merkmalskonstellationen überprüft und die Informationen aus dem freien Patientenbericht ergänzt.
Sowohl die Ergebnisse der körperlichen bzw. klinischen Untersuchung, als auch des psychopathologischen Befundes sind für die Diagnose Magersucht entscheidend. Durch eine gründliche körperliche Untersuchung kann z.B. eine organische Störung (z.B. Überfunktion der Schilddrüse) ausgeschlossen werden. Sollte der Verdacht entstehen, dass das Untergewicht durch eine andere Ursache hervorgerufen wurde, wird der Arzt weitere Untersuchungen veranlassen.
Diagnosekriterien für Anorexia nervosa nach ICD-10
Je nach Klassifikationssystem müssen für die Diagnose „Anorexia nervosa“ mehrere Kriterien erfüllt sein. In Deutschland werden die Diagnosekriterien nach ICS-10 vorgenommen. „ICD“ ist die englische Abkürzung für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems„, was übersetzt „Internationales statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“heißt.
Das ICD-10 ist die 10. Revision und das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin. Für Anorexia nervosa kommen nach ICD-10 F50.0 folgende Diagnosekriterien zur Anwendung:
- Das Körpergewicht liegt mindestens 15 Prozent unterhalb des zu erwartenden Gewichts (dabei spielt es keine Rolle, ob das zu erwartende Gewicht mit oder ohne vorangegangene Gewichtsabnahme nicht erreicht wurde) ODER der Body-Mass-Index (BMI) beträgt 17,5 oder weniger (bei Personen ab 16 Jahren). Hinweis: Bei präpubertären Patienten kann es während der Wachstumsphase vorkommen, dass die erwartete Gewichtszunahme nicht eintritt.
- Der Gewichtsverlust ist selbstverursacht, indem „Dickmacher“ vermieden werden und zusätzlich mindestens eine der folgenden Möglichkeiten zutrifft:
- selbstinduziertes Erbrechen
- selbstinduziertes Abführen
- übermäßige Bewegung
- Gebrauch von Appetitzüglern und/oder Diuretika
- Es liegt eine Körperschemastörung in Form einer spezifischen psychischen Störung vor, wobei eine große Angst vor Fettleibigkeit als eine aufdringliche, „überwertige“ Idee besteht und der Patient für sich selbst eine niedrige Gewichtsschwelle festlegt.
- Endokrine Störungen auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse, bei Frauen manifestiert als Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation), bei Männern als Libido- und Potenzverlust. Eine offensichtliche Ausnahme sind magersüchtigen Frauen, die ersatzweise eine hormonale Therapie (meist in Form einer empfängnisverhütenden Pille) erhalten. Ebenso kann es zu einem erhöhten Wachstumshormonspiegel, einem erhöhten Cortisolspiegel, Änderungen im peripheren Metabolismus des Schilddrüsenhormons und Anomalien der Insulinsekretion kommen.
- Bei Erkrankungsbeginn vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklung gestört (Wachstumsstopp, fehlende Brustentwicklung und Verspätetes Einsetzen der Regelblutung bei Mädchen, bei Jungen bleiben die Genitalien jugendlich). Nach erfolgreicher Therapie wird die Pubertät oft normal abgeschlossen, allerdings setzt die erste Periode bei Mädchen spät ein.
- Subtypen:
- Restriktive Form (F50.00): Anorexie ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc.)
- Bulimische Form (F50.01): Anorexie mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc. in Verbindung mit Heißhungerattacken)
Quelle: „The ICD-10 Classification of Mental and Behavioural Disorders“ der WHO (PDF, Seite 138 + 139)
Diagnosekriterien für Anorexia nervosa nach DSM-IV
Das DSM-IV ist das amerikanische Diagnosesystem und steht für „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (deutsch für „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“).
Die Diagnosekriterien des DSM-IV können als Ersatz und/oder Ergänzung für die jeweiligen Passagen im ICD-10 herangezogen werden. Ähnlich wie ICD-10 unterscheidet auch das DSM-IV nach Subtypen der Magersucht.
Folgende Diagnosekritierien müssen nach DSM-IV für Anorexie nervosa erfüllt sein:
- Die Weigerung, das Körpergewicht auf oder über einem Minimal-Normalgewicht für das Alter und die Körpergröße zu erhalten, beispielsweise führt der Gewichtsverlust dauerhaft zu einem Körpergewicht von weniger als 85% des zu erwarteten Gewichts oder das Ausbleiben einer
während der Wachstumsperiode zu erwartenden Gewichtszunahme führt zu einem Körpergewicht von weniger als 85 % des zu erwartenden Gewichts. - Trotz bestehenden Untergewichts ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden
- Störung in der Wahrnehmung des eigenen Körpergewichts und der Figur, übermäßiger Einfluss des Körpergewichts und der Figur auf die Selbstbewertung oder Leugnen des Ausmaßes des aktuell niedrigen Körpergewichts.
- Bei postmenarchalen Frauen (nach der ersten Regelblutung) Auftreten einer Amenorrhoe, d.h. Ausbleiben von mindestens drei aufeinander folgenden
Menstruationszyklen. Auch bei Frauen, die ihre Periode nur durch Einnahme von Hormonpräparate (z. B. Östrogen) bekommen, wird eine Amenorrhoe angenommen. - Subtypen:
- Restriktiver Typus: Die Person hat während der aktuellen Krankheitsepisode der Anorexia nervosa keine regelmäßigen „Fressanfälle“ (Binge-Eating) oder zeigt kein „Purging“-Verhalten (d.h. selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxantien, Diuretika oder Klistieren).
- Purging-Typus: Die Person hat während der aktuellen Krankheitsepisode der Anorexia nervosa regelmäßig „Fressanfälle“ gehabt oder zeigt „Purging“-Verhalten (d.h. selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxantien, Diuretika oder Klistieren).
Quelle: Eating Disorder Diagnostic Criteria from DSM IV-TR: 307.1 Anorexia Nervosa (PDF)
Magersucht und Bulimie
Beide Klassifizierungssysteme unterscheiden zwei Gruppen von anorektischen Patienten.
Einige Magersüchtige halten ausschließlich Diät ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme, wie Erbrechen, Abführen etc. Der Gewichtsverlust wird somit nur durch die Einschränkung der Nahrungsaufnahme, Kalorieneinsparung oder durch striktes Fasten erzielt. Einige Magersüchtige stellen sogar das Trinken ein. Diesen Typus bezeichnet man als die „restriktive“, „asketische“ oder „passive“ Form der Anorexie nervosa.
Bei den anderen Magersüchtigen treten aber auch bulimische Symptome auf. An diesem Typ Erkrankten ergreifen aktiven Maßnahmen zur
Gewichtsabnahme. Sie beschleunigen ihre Gewichtsabnahme z.B. durch selbstinduziertem Erbrechen oder durch Missbrauch von Laxantien (Abführmitteln), Appetitzüglern, Diuretika, die Verwendung von Klistieren oder exzessive sportliche Betätigung. Man spricht hierbei vom „Purging-Typus“ (engl. „purging“ = abführen) oder von der „aktiven“ bzw. „bulimischen“ Form der Anorexie.
Beim Übergang in die bulimische Form der Magersucht wird die Dauerdiät häufig auch durch Heißhungerattacken und Essanfälle durchbrochen. Das Hungergefühl wird irgendwann so überwältigend bzw. unerträglich, dass die Betroffenen dem Bedürfnis nach Nahrung nachgeben. Die Wahrscheinlichkeit für Heißhunger wird durch hypoglykämischen Zustände (niedrige Blutzuckerwerte) begünstigt.
Manchmal geben Magersüchtige auch auf Drängen der Eltern nach und essen (mehr), als sich sich normalerweise erlauben würden. Anschließend versuchen sie, die unfreiwillig eingenommene Nahrung wieder „ungeschehen“ zu machen bzw. loszuwerden. In solchen Fällen kann sich die Magersucht zur Bulimie umwandeln. Einige erbrechen sich und missbrauchen Medikamente, auch ohne Heißhungerattacken gehabt zu haben.
Sowohl die Magersucht, als auch die Bulimie treten zum Teil kombiniert oder nacheinander auf und neigen zu chronischen Verläufen. Bei Betroffenen des „Purging“-Typus beginnt die Essstörung meist später. I.d.R. haben sie vor der Erkrankung ein höheres Gewicht und eine ausgeprägtere Körperschemastörung, als Betroffene mit rein anorektischer Symptomatik. Auch neigen sie häufig zu Depressionen.
Wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen der Anorexia nervosa des bulimischen Typs und der Bulimia nervosa ist das Körpergewicht. Eine Anorexia nervosa wird diagnostiziert, wenn der BMI bei bzw. unter 17,5 liegt und das Untergewicht selbst herbeigeführt wurde. Das selbst gesetzte Gewichtslimit bei bulimischen Patienten bewegt sich hingegen im Bereich des unteren Normal- oder leichtem Untergewichts (BMI bei oder leicht unter 18,5).
Magersucht vs. „nicht näher bezeichnete“ Essstörung
Anorexia nervosa ist nach festen Merkmalen definiert. Entsprechend müssen für eine Diagnose bestimmte Kriterien erfüllt sein. Dazu zählen:
- niedriges Körpergewicht (mindestens 15 Prozent unter dem zu erwartenden Gewicht)
- große Angst vor einer Gewichtszunahme
- selbst herbeigeführter Gewichtsverlust
- verzerrte Körperwahrnehmung (Körperschemastörung)
- bei Frauen: Ausbleiben der Menstruation, bei Männern: Potenzverlust
Allerdings zeigen nicht alle von Magersucht Betroffenen diese definierten Merkmale. Es gibt eine Vielzahl von Magersüchtigen, die zwar bestimmte Symptome zeigt, der allerdings nicht eindeutig die Essstörungssymptomatik einer Anorexia nervosa zugeordnet werden kann.
Beispielsweise kann ein Mädchen oder eine Frau weiterhin regelmäßig ihre Menstruation haben und trotzdem alle sonstigen Kriterien der Magersucht erfüllen. Auch gibt es Betroffene, die erheblich an Gewicht verlieren und die typischen Symptome für eine Anorexia nervosa zeigen, aber trotzdem noch kein kritisches Untergewicht erreicht haben.
In beiden Fällen erfüllen diese Personen nicht die diagnostischen Kriterien für eine Magersucht, sind aber trotzdem essgestört. Sie zählen in die Kategorie der „nicht näher bezeichneten“ Essstörungen. Der Schritt bis zur „vollständigen“ Diagnose ist oft nicht mehr weit entfernt. Je früher der Erkrankte bzw. sein Umfeld das Problem erkennt und handelt, umso besser sind die Chancen auf Besserung.
Ursachen von Magersucht
Die Erklärungsmodelle für die Ursachen von Magersucht sind unterschiedlich. Es gibt keinen universellen Ansatz, da bei der Entstehung der Anorexie verschiedene Faktoren zusammenwirken, die sich gegenseitig beeinflussen.
Meist handelt es sich um ein Zusammenwirken biologischer, persönlichkeitsbedingter, soziokultureller und familiärer Faktoren. Selbstzweifel, ein geringes Selbstwertgefühl, Spannungen in der Familie, Trennungserlebnisse, der Druck unter Gleichaltrigen etc. Die Gründe, warum eine Magersucht entsteht sind vielfältig und individuell unterschiedlich.
Folgend sollen einige Faktoren, die bei der Entstehung Anorexie nervosa zusammenwirken, dargestellt werden.
Genetische Faktoren
Es besteht ein genetisches Risiko für Anorexia. Die Ergebnisse systematischer Familienstudien und Zwillingsstudien zeigen, dass die Prävalenz bzw. Krankheitshäufigkeit von Essstörungen bei Familienmitgliedern magersüchtiger Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen erhöht ist.
Verwandte von Magersüchtigen weisen auch ein höheres Risiko für bulimische Essstörungen auf, als Familien ohne essgestörte Angehörige. Das Risiko, ebenfalls an einer Essstörung zu erkranken steigt mit engerem Verwandtschaftsgrad.
Biologische Faktoren
Das Hungern kann zu Funktionsstörungen des menschlichen Organismus und infolge dessen zu gegenseitig verstärkenden Faktoren der Magersucht führen. Bei Hunger kommt es zu Wechselwirkungen zwischen Veränderungen im Nervensystem, Stoffwechsel und Verhalten, die für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Magersucht relevant sind. So verstärkt sich bei niedrigem Körpergewicht z.B. depressives, zwanghaftes und ängstliches Verhalten.
Ein anderes Beispiel ist der Neurotransmitter Serotonin, der in Nervenzellen des Gehirns aus der Aminosäure Tryptophan gebildet wird, die wiederum mit der Nahrung zugeführt wird. Der Botenstoff Serotonin beeinflusst das Hunger- und Sättigungsgefühl. Auch viele andere Botenstoffe und Hormone wirken auf das Esszentrum im Gehirn und können zur Entstehung, sowie Aufrechterhaltung der Anorexia nervosa beitragen.
Zudem weisen von Magersucht Betroffene erhöhte Anzahl an Risikofaktoren um die Geburt herum auf. Komplikationen beim Geburtsvorgang, die Beeinträchtigungen zum Gehirn gehörender Strukturen hervorrufen, könnten einen unspezifischen Risikofaktor darstellen.
Familiäre Faktoren
Auch familiäre Faktoren spielen für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Anorexie nervosa eine Rolle. Obwohl es „die anorektische Familie“ nicht gibt, scheint vor allem die wechselseitige Interaktion zwischen den kindlichen Eigenschaften und dem Erziehungsstil der Eltern wichtig.
Hohe Leistungsanforderung und Erwartungen von den Eltern, mangelnde Autonomie, geringer Kontakt, emotionale Kälte, geringe oder nur bedingte Zuneigung und Unterstützung können zur Entstehung einer Magersucht beitragen.
Häufig ist in den Familien ein großes Harmoniestreben und eine starke Bindung der Familienmitglieder untereinander zu beobachten. Nach außen hin wirken sie wie „Bilderbuch-Familien“. Konflikte werden selten ausgetragen, ebenso wird wenig über negative Gefühle gesprochen.
Manchmal reagiert die Familie nicht angemessen auf die Entwicklung des Kindes. Dies kann auf seiten des Kindes zu einem ausgeprägten Harmoniebedürfnis, sozialer Ängstlichkeit und Streben nach Perfektionismus führen.
Übermäßige Ängstlichkeit und wenig Selbstbewusstsein (vor allem der Mütter) und ein einengenden Erziehungsstil können zu einer gestörte Eltern-Kind-Beziehung beitragen. Wenn Eltern das Leben ihres Kindes in Besitz nehmen und jegliche Privatsphäre fehlt, ist das Streben nach Autonomie umso größer.
Die Magersucht kann in solchen Fällen zur Ableitung von Spannungen und Konflikten oder zur Aufrechterhaltung des Familienzusammenhaltes dienen. Häufig dient die Krankheit aber auch der Erlangung einer unabhängige Identität, da Betroffene über die Gewichtskontrolle und die Schlankheit ihren Selbstwert stabilisieren.
Statt über Konflikte zu sprechen, werden diese über den Körper nach außen kommuniziert. Der heranwachsende Körper wird beherrscht, um über ihn den aggressiven Wunsch nach Autonomie auszuleben. Die Magersucht ist in erster Linie eine Abwehr von Fremdbestimmung und eine Form der Selbstkontrolle, die sich z.B. durch Kalorienzählen und ständiges Wiegen äußert. Pubertierende Magersüchtige bewältigen damit die gefühlte Ohnmacht während des Heranwachsens.
Obwohl in Familien mit magersüchtigen Patienten häufig bestimmte Verhaltensmuster festgestellt werden können, besteht durchaus die Möglichkeit, dass diese nicht die Ursache, sondern die Folge der Krankheit sind. Schließlich ist das Krankheitsbild der Anorexia nervosa für Eltern äußerst besorgniserregend, was verstärkt dazu beitragen kann, dass sie ihr Kind schützen und von Konflikten fernhalten wollen.
Ein weiterer Faktor, der die Entstehung von Magersucht begünstigen kann, sind die Essgewohnheiten in der Familie. Manchmal werden bestimmte Lebensmittel, wie Obst, Gemüse, Salat etc. als besonders „gesund“ angepriesen und positiv verstärkt. Andere Lebensmittel wiederum, wie beispielsweise Süßigkeiten, Fett, Wurst etc. werden kategorisch als „ungesund“ oder „Dickmacher“ abgestempelt und gezielt vermieden.
Auch die Einstellung von Eltern und Geschwistern zu den Themen Gewicht, Figur, Diäten, Sport und Fitness kann als Modell für die Entwicklung der eigenen Überzeugung darüber dienen, was als schön oder attraktiv gilt. Insbesondere Kinder und Jugendliche lernen von ihrem Umfeld und ahmen vorgelebte Gewohnheiten und Verhaltensweisen nach.
Sowohl die Essgewohnheiten, als auch die Bedeutung von Körpergewicht und Figur können so bereits früh durch das familiäre Umfeld geprägt werden. Im Kindes- und Jugendalter sind die Folgen einer beginnenden Anorexia nervosa besonders fatal, da gerade in dem Alter eine ausgewogene Ernährung für die gesunde Entwicklung enorm wichtig ist. Dazu gehört auch ein ausreichend hoher Anteil an Fetten und Proteinen, wie sie in z.B. in Butter und Fleischwaren vorkommen – also Lebensmitteln, die häufig abgelehnt oder weitgehend vermieden werden.
Persönlichkeitsfaktoren
Insbesondere Magersüchtige des restriktiven Typs zeichnen sich durch typische Persönlichkeitsmerkmale aus.
Viele Menschen mit Anorexia nervosa haben geringes Selbstbewusstsein, einen Mangel an Selbstwertgefühl und ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis. Betroffene sind oft introvertiert und angepasst, meist beharrlich, nicht selten auch stur, neigen zu negativen und unangenehmen Gefühlen, sind in allen Lebensbereichen perfektionistisch eingestellt und neigen zu zwanghaftem Verhalten.
Gerade Magersüchtige in der Pubertät scheinen sich überfordert damit zu fühlen, die alterstypischen Anforderungen zu bewältigen und eine neue Identität zu finden. Insbesondere viele pubertierende Mädchen fühlen sich den psychischen und körperlichen Veränderungen dieser Lebensphase nicht gewachsen.
Ursachen dafür können eine Überangepasstheit in der Kindheit oder Kritik von Eltern oder Gleichaltrigen sein, die in der Pubertät ein Ohnmachtsgefühl gegenüber dem eigenen Körper hervorrufen. Weitere Faktoren sind ein höheren Körperfettanteil bei gleichzeitig niedrigerem Energieverbrauch bei Mädchen im Vergleich zu Jungen. Das erhöht das Risiko bzw. die Bereitschaft, eine Diät zu beginnen, die wiederum den Beginn einer Essstörung einleiten kann.
Die Kontrolle des eigenen Körpergewichts und die Überwindung der Hungergefühle vermitteln ein Gefühl von Sicherheit und Selbstbehauptung. Die Beschäftigung mit dem Körpergewicht gewinnt im Leben von Anorektikern an enormer Bedeutung. Das Abnehmen wird zu einem wirkungsvollen Verstärker, das Ergebnis auf der Waage eine wichtige Quelle für das Selbstwertgefühl.
Magersüchtige kämpfen gegen ihren Körper an und verlieren häufig das Gefühl für Körpersignale, wie Müdigkeit und Schmerzen. Manchmal ist der extreme Gewichtsverlust auch eine Begleiterscheinung von Depressionen oder Ausdruck von selbstverletzendem Verhalten.
Soziokulturelle Faktoren
Gegenüber anderen Kulturkreisen treten Essstörungen in westlichen Industrienationen häufiger auf. Die Massenmedien vermitteln den soziokulturellen Druck, schlank zu sein. Modemagazine, Werbung, Filme, Castingshows etc. fördern den Schlankheitswahn, indem sie einen sehr schlanken bis dürren Körper (bei Frauen) bzw. einen muskulösen, durchtrainierten Körper (bei Männern) als Schönheitsideal darstellen.
Für Zeitschriften und Plakatwerbung werden selbst Topmodels mit Photoshop noch schlanker, die Beine noch länger und der Busen noch größer verfälscht. Das Ergebnis sind nicht selten realitätsferne Körperformen, die sich vor allem viele junge Mädchen und Frauen zum Vorbild nehmen.
Wer schlank und schön ist, ist beliebter und beruflich erfolgreicher – wird in Film, Werbung und Medien suggeriert. Es entsteht der Eindruck, man müssen den strengen Idealmaßen entsprechen, um attraktiv und erfolgreich zu sein.
Dicken Frauen hingegen kommt gerne die Rolle einer „grauen Maus“ oder „Ulknudel“ zuteil. Magersucht ist häufiger in der Mittel- und Oberschicht zu beobachten, doch auch einige Risikogruppen sind besonders gefährdet. Dazu zählen Berufe und Sportarten, die ein sehr niedriges Körpergewicht verlangen, wie z.B. Model, Skispringen, Radfahren, Ballett, Eiskunstlauf, Leichtathletik und Turnen.
Als geeignetes Mittel zum Erreichen des Schlankheitsideals werden diverse Diäten angepriesen. Bereits viele Jugendliche setzen sich kritisch mit ihrem Körper auseinander. Mädchen sind i.d.R. deutlich unzufriedener mit ihrem Körper als Jungen. Sie unterliegen stärker dem Druck des Schlankheitsideals, weshalb Magersucht häufiger beim Mädchen und Frauen diagnostiziert wird.
Übergewichtige Männer werden gerne mal als „stattlich“ bezeichnet, während übergewichtige Frauen von der Gesellschaft sehr negativ bewertet und häufig als fett und undiszipliniert abgestempelt werden. Der Druck, dem Schönheitsideal zu entsprechen, ist daher insbesondere bei Frauen groß.
Gerade junge Frauen, die sich in der Pubertät befinden und körperliche Veränderungen durchlaufen, können durch das gängige Schlankheitsideal stark verunsichert werden. Die Gesellschaft fordert von Jugendlichen zunehmend mehr Autonomie und Selbstbehauptung.
Junge Frauen und Männer mit einem niedrigen Selbstwertgefühl und rigiden Verhaltensweisen reagieren auf diese Anforderungen mit noch mehr Anpassungsbereitschaft. Bei dem Versuch, die gesellschaftliche Normen in Sinne des Schlankheitsideals optimal zu erfüllen, entwickeln sie kein Gefühl für den eigenen, „neuen“ bzw. heranwachsenden Körper.
Magersucht beginnt oftmals mit einer Diät, die durch Lob und Anerkennung aufgrund des Gewichtsverlustes verstärkt wird. Betroffene entdecken, dass sie durch rigide Kontrolle ihres Speiseplans zunächst Anerkennung und Bestätigung erlangen. Aus dieser Erfahrung einer „Schlankheitskur“ heraus können sie allmählich in eine Essstörung rutschen und nach und nach das Gespür für ein natürliches Essverhalten, Hunger und Sättigung verlieren.
Obwohl die Durchführung einer Diät signifikant mit dem Auftreten von Essstörungen zusammenhängt, entwickelt nicht jeder, der eine Diät durchführt automatisch Magersucht. Dennoch können eine permanente Mangeldiät und strikte Kalorienrestriktion zu weiteren Komplikationen, wie einer Körperschemastörung, sowie depressiven und zwanghaften Symptomen führen.
Psychische Traumatisierungen
In der Geschichte von Patienten mit Magersucht finden sich häufig Fälle schwerer psychischer Traumatisierungen, wie Misshandlungen und mit höherer Wahrscheinlichkeit auch Fälle von sexuellem Missbrauch in der Kindheit.
Letztere treten auch bei anderen psychiatrischen Erkrankungen mit höherer Wahrscheinlichkeit auf, weshalb ein Missbrauch einen unspezifischen Risikofaktor für eine Magersucht darstellt.
Das Psychoanalytische-Triebtheoretische Erklärungsmodell sieht die Magersucht als Abwehr von sexuellen bzw. Triebwünschen. Betroffene lehnen die erwachsene Identität und damit auch den erwachsenen Körper ab. Sie hegen den unbewussten Wunsch, eine Kindergestalt beizubehalten und die Entwicklung vom Kind zumErwachsenen zu bremsen.
Bei anorektischen Mädchen ist häufig eine fehlende Brustentwicklung zu beobachten, bei Frauen bleibt die Regelblutung aus. Bei Jungs bleibt die Entwicklung der Hoden und des Penis aus, bei Männern stellt sich ein Libido- und Potenzverlust ein.
Dadurch, dass der Körper in seiner Entwicklung gestört und seiner sekundären Geschlechtsmerkmale beraubt wird, können Magersüchtige ihre psychosexuelle Entwicklungskrisen in der Pubertät beenden. Sie kehren damit in die scheinbar heile Kinderwelt zurück und nehmen sexuelle Regungen häufig nicht oder angstbesetzt wahr.
Welche Folgen hat Magersucht?
Die Folgeschäden einer Anorexia nervosa für Körper und Seele sind groß.
Mädchen und Jungen, die an Magersucht erkranken, werden ihrer Pubertät – einer extrem wichtigen Lebensphase – beraubt. Die Identität mit dem eigenen Körper, Verantwortung für das eigene Leben, Experimente mit Regeln, Normen und Werten – all das ist später nicht mehr nachzuholen.
Zudem kann sich die pubertäre Entwicklung verzögern, da die ständige Unterernährung den Hormonhaushalt durcheinander bringt. So kann z.B. das Größenwachstum vorzeitig enden und die Geschlechtsreife gar nicht oder nur verzögert eintreten. Jugendliche Magersüchtige sind häufig kleiner als gleichaltrige Mädchen bzw. Jungen und entwickeln häufig kein Verlangen nach Sexualität oder gar Ängste davor. Viele ziehen sich von zurück und knüpfen keine sozialen Bindungen.
Die Folgeerscheinung der Magersucht sind für Jugendliche besonders gravierend, da das verzögerte Wachstum selbst bei erfolgreicher Therapie in vielen Fällen nicht nachgeholt werden kann.
Doch auch für erwachsene Frauen und Männer ist die Magersucht Gift für Körper und Seele.
Körperliche Folgen der Magersucht
Der Gewichtsverlust, das ständige Hungern und die Mangelernährung können u.a. zu schwerwiegenden körperlichen Schäden führen.
- Hormonelle Störungen: Magersucht führt zu einer niedrigen Konzentrationen an Geschlechtshormonen. Bei Frauen wird die Menstruation unregelmäßig und bleibt meist ganz aus, was zu einer Einschränkung der Fruchtbarkeit führen kann (unerfüllter Kinderwunsch). Bei Einnahme der Pille kann eine Magersucht auch trotz Eintreten der Menstruation vorliegen. Mitunter kann es zum Ausbleiben des Brustwachstums kommen. Männer verlieren die sexuelle Lust und werden impotent.
- Herz-Kreislauf-Probleme: Der Herzschlag verlangsamt sich, der Blutdruck sinkt. Symptome sind Schwindelgefühlen (z.B. beim schnellen Aufstehen) bis hin zur Ohnmacht. Aufgrund von Kalium- und Säuremangel können Veränderungen bei der Erregung des Herzmuskels und schwere Herz-Rhythmus-Störungen eintreten. Das Herz kann aus dem Takt geraten und schließlich aussetzen (plötzlicher Herztod).
- Blut: Das Blutbild verändert sich. Es kann zu Durchblutungsstörungen, Unterzuckerung, Blutarmut (Anämie) und Verschiebungen des Säuregehaltes im Blut kommen. Auch können Leukopenie (Mangel an weißen Blutkörperchen) und Thrombozytopenie (Mangel an Blutbättchen) eintreten. Weitere mögliche Laborbefunde sind die Erhöhung von Transaminasen (Leberwerte), Amylasen (Verdauungsenzymen) und harnpflichtigen Substanzen.
- Stoffwechsel: Infolge der Magersucht können Veränderungen im Lipid- bzw. Fettstoffwechsel, sowie die Erniedrigung von Gesamteiweiß und Albumin (ein Protein), sowie Zinkmangel eintreten.
- Körpertemperatur: Die Körpertemperatur sinkt, man friert leicht und ist sehr kälteempfindlich, da das wärmedämmende subkutane Körperfett fehlt. Aufgrund von Durchblutungsstörungen kommt es zu Kältegefühlen an Händen und Füßen und im Extremfall sogar zu Erfrierungen. Auch kann ein Taubheitsgefühl an Händen und Füßen oder im Gesicht vorkommen.
- Hautprobleme: Die Haut trocknet aus, wird schuppig und ist blass. Zunehmend bildet sich eine feine, flaumartige Körperbehaarung, sog. „Lanugohaare“ (u.a. an Rücken, Armen und Gesicht), damit der Körper nicht so schnell auskühlt. Da das Unterhautfettgewebe schrumpft, treten die Venen deutlich sichtbar hervor, die Haut an Händen und Füßen schimmert bläulich. Bei einer Unterversorung des Blutes mit Sauerstoff kann es zu einer Blaufärbung von z.B. Fingern, Zehen, Nase und Ohren kommen (Akrozyanose). Weitere Merkmale sind eine kalte und feuchte Haut. Auch ist häufig eine fleckige, marmoriert aussehende Haut zu beobachten (Cutis marmorata).
- Nägel: Werden stumpf und brüchig
- Haare: Werden dünner, brüchig und stumpf, es kann zu Haarausfall kommen
- Knochenschwund: Schwerwiegend ist vor allem der Mangel an Vitamin D. In Kombination mit Nierenfunktionsstörungen, veränderten Sexualhormonen und einem Calcium- oder Phosphatdefizit kommt es bei längerer Krankheitsdauer kommt es zu schwerwiegenden Störungen des Knochenstoffwechsels. Die Knochengrundsubstanz wird unzureichend mit wichtigen Vitaminen und Mineralien, wie Kalzium und Phosphor, versorgt. Infolge dessen kommt es zu einer Knochenerweichung (Osteomalazie) und einer Verringerung der Knochenmasse und Knochendichte bzw. der Knochengrundsubstanz (Osteoporose). Die Knochen werden brüchig, das Risiko einer Fraktur ist selbst bei minimalen Stürzen erhöht.
- Trommelschlegelfinger: Andere Umbauprozesse der Knochen können zu auffälligen, rundlichen Auftreibungen und Weichteilverdickung von Finger- und Zehenendgliedern (sog. „Trommelschlegelfingern“ oder „Kolbenfingern„) führen.
- Magen-Darm-Beschwerden: Durch die stark reduzierte Nahrungsaufnahme wird das Magen-Darm-System in Mitleidenschaft gezogen. Mögliche Symptome sind Darmträgheit, (chronische) Verstopfungen und Blähungen, Magenkrämpfe und Übelkeit, Nierenversagen. Es kann zur Bildung von Hungerödem und dem „alimentären Dystrophie-Syndrom“ kommen, was sich in Anschwellungen (z.B. einem aufgetriebenem Bauch) und Schmerzenausdrücken kann.
- Muskelschwäche: Verkrampfungen und einer schnelle Ermüdbarkeit der Muskulatur können eintreten. Das kann zu Blasenschwäche (Inkontinenz)führen.
- Hirnschwund: Eine einhaltende Unterernährung kann zum Schwund des Hirngewebes und infolge dessen zu Leistungseinbußen führen. Der Hirnschwund äußert sich in einer Verbreiterung der Hirnfurchen und einer Vergrößerung der inneren Gehirnkammern, die das Hirnwasser führen.
- Nierenprobleme: Bei zu geringer Flüssigkeitsaufnahme kann der Harnsäurespiegel ansteigen und zu Nierenstörungen – ähnlich wie bei einer Gichterkrankung – führen. Nierenversagen ist möglich. Auch langandauernde Elektrolytstörungen schädigen das Nierengewebe und beeiträchtigen die Nierenfunktion.
- Wassereinlagerungen: Bei starkem Eiweißmangel lagert sich Flüssigkeit im Gewebe ab. Es kann zu gefährlichen Wassereinlagerungen im Gewebe (Ödemen) kommen, mit denen die Niere versucht, einen weitergehender Elektrolytmangel zu kompensieren. So kann langjähriger Kaliummangel die Nierenfunktion dauerhaft schädigen und zu einer chronischen Niereninsuffizienz führen. Bei dieser wiederum können aufgrund einer verminderten Ausscheidung von Wasser vermehrt Wassereinlagerung in Geweben entstehen.
- Störungen des Mineralstoffhaushalts: Durch Fasten, Erbrechen und den Gebrauch von Abführmitteln (Laxantien) und harntreibenden Medikamenten (Diuretika) kann es zu einem Mangel an lebensnotwendigen Elektrolyten (z.B. Kochsalz, Magnesium, Kalium) kommen.
- Kurzfristige Gewichtszunahme: Eine konstante Mangelernährung führt zu einer Herabsetzung des Energieverbrauchs. Eine normale Nahrungsaufnahme kann unter Umständen zu einer kurzfristigen Gewichtszunahme führen.
- Bei häufigem Erbrechen: Sodbrennen und Entzündungen der Speiseröhre, sowie Zahnerosionen durch Magensäure und Karies können entstehen. In einigen Fällen kann da zu einem Geschwür und infolge dessen zu Blutungen oder Wanddurchbrüchen führen, die lebensbedrohliche Komplikationen nach sich ziehen können.
In Anbetracht der Folgen, die eine Magersucht auf den Körper hat, kann man diese Krankheit wirklich als Gift bezeichnen. Der anhaltende Hungerzustand schädigt letztendlich sämtliche Organe im Körper: Herz, Niere, Leber, Gehirn usw. Auch die Knochensubstanz ist betroffen. Langzeitfolgen, wie Osteoporose oder Niereninsuffizienz sind nicht selten.
Die normalen Körperfunktionen werden verlangsamt und der Stoffwechsel heruntergefahren. Der Grundumsatz sinkt, der Körper verbraucht im Ruhezustand immer weniger Kalorien. Im Umkehrschluss heißt das: Der Magersüchtige muss immer weniger essen bzw. umso mehr Kalorien durch Sport etc. verbrauchen, um sein niedriges Gewicht zu halten – ein Teufelskreis.
Die schlechte Nährstoffversorgung führt auch optisch zu Einbußen. Haut, Haare, Nägel – all das, worauf Frauen (und auch Männer) viel Wert legen, leidet unter der Magersucht. Die Haut wird trocken und fahl, die Haare werden stumpf und fallen aus und die Nägel werden brüchig.
Die körperlichen Folgen sind umso schlimmer, je jünger der Patient ist und je weniger er wiegt. Eine Magersucht kann chronisch werden und je nach Schwere unter Umständen auch tödlich enden. Man kann sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode hungern.
Essstörungen haben die höchste Sterblichkeitsrate aller psychischen Erkrankungen. Etwa 5 bis 6 Prozent aller Magersüchtigen sterben an der Essstörung. Bei Mädchen und jungen Frauen zählt die Anorexia nervosa zu den häufigsten Todesursachen.
Der Tod kann durch Komplikationen, wie Herzstillstand, Infektionen, Lungenentzündungen oder andere Begleiterkrankungen eintreten oder weil das Immunsystem des ausgezehrten Körpers versagt. Kompensatorische Verhaltensweisen, wie selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln oder Entwässerungsmitteln und extreme körperliche Aktivität können das Sterblichkeitsrisiko erhöhen. Hungern in Kombination mit weiteren Maßnahmen zur Gewichtskontrolle steigert das Risiko, an Herzproblemen durch Muskelschwund oder durch Störungen des Elektrolythaushalts zu erkranken.
Viele körperlichen Befunde, die durch die Mangelernährung verursacht werden, verschwinden meist vollständig, sobald sich das Essverhalten wieder langfristig normalisiert hat. Doch manchmal ist es dafür schon zu spät, sodass einige Betroffene ihr ganzes Leben unter den Langzeitfolgen der Magersucht (z.B. Unfruchtbarkeit) zu leiden haben – wenn sie die Krankheit überhaupt überleben.
Folgen für die Seele
Hungern macht auch seelisch krank. Neben den körperlichen Beschwerden infolge des veränderten Essverhaltens und der starken Gewichtsabnahme können auch psychische Probleme entstehen:
- Angststörungen: Magersüchtige fürchten das Urteil anderer. Die Angst, abgewertet, nicht gemocht oder nicht geliebt zu werden, ist groß. Betroffene vergleichen sich häufig mit anderen Menschen und fürchten, nicht gut genug, dünn genug oder schön genug zu sein. Die extreme Angst vor einer Gewichtszunahme und die Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse (Hunger, Durst, Schlaf, Erholung, Sexualität) kann bis zu Selbsthass führen. Auch Panikattacken (z.B. bei Gewichtszunahme, engen Räumen) und Trennungsängste können auftreten.
- Zwangsstörungen: An Anorexia nervosa Erkrankte zeigen häufig zwanghaftes Verhalten, das sich z.B. in Essritualen äußert. Krankhaftes Kalorienzählen, ständiges Grübeln über das Essen, zeitintensives Vergleichen von Lebensmitteln, Zerkleinern von kleinsten Portionen etc. können zum Zwang werden. Zwanghaftes Verhalten kann sich auch beim Waschen, Putzen, Aufräumen, Sammeln, Ordnung halten und Sparen zeigen. Auch in diesen Lebensbereichen kann sich ein starkes Kontrollbedürfnis entwickeln.
- Depressive Verstimmung: Der anhaltende Hungerzustand kann die Stimmung verändern. Magersüchtige werden häufig schwermütig, unausgeglichen, apathisch, stark reizbar und zeigen auch depressive Symptome. Die zwanghafte Fixierung auf das Essen, die Kontrolle über jede verzehrte Kalorien, das ständige Wiegen und Schuldgefühle, wenn etwas schmeckt, schlagen auf das Gemüt. Aktivitäten, die Spaß machen, werden abgelehnt. Das niedrige Selbstwertgefühl kann Schuldgefühle und Gefühle von Hoffnungslosigkeit schüren. Mit zunehmender Depression zieht sich der Magersüchtige immer mehr zurück und verliert zunehmend seine Lebensfreude und das Interesse an der Umwelt. Gleichzeitig kann es zu Konzentrationsstörungen, abnehmender Leistungsfähigkeit, Schlafstörungen und mangelndem sexuellen Interesse kommen. Einige Betroffene zeigen auch selbstverletztendes Verhalten und haben Selbstmordgedanken.
„Mens sana in corpore sano“ – die lateinische Redewendung, die übersetzt „ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ bedeutet, heißt im Umkehrschluss, dass in einem kranken und schwachen Körpern kein gesunder Geist innewohne.
Das ist bei der Magersucht der Fall. Ein von Hunger und ständigen Gedanken übers Essen geplagter Körper ist kein gutes Zuhause für die Seele.
Wie wird Magersucht therapiert?
Wie ist eine Magersucht zu heilen? Salopp könnte man sagen: Mit Essen und Zunehmen. Doch so einfach ist es nicht.
Anorexia nervosa ist eine psychische Erkrankung, entsprechend reicht es nicht aus, lediglich die körperlichen Symptome und Verhaltensweisen (z.B. mit Pharmazeutika) zu beseitigen. Ein dauerhafter Erfolg ist nur möglich, wenn die tieferliegenden psychischen (und sozialen) Ursachen für die Essstörung erfolgreich therapiert werden. Daher ist die Psychotherapie ei der Behandlung von Magersucht ein bewährtes Mittel.
Doch das Wort „Therapie“ ist für viele Magersüchtige ein rotes Tuch. War zu Beginn der Erkrankung nur das Schlankwerden das zentrale Motiv, entwickeln Patienten bei längerem Krankheitsverlauf eine regelrechte Sucht, mager zu sein.
Die panische Angst, wieder mehr zu essen und Gewicht zuzunehmen steht einer Therapie häufig im Wege. Da anorektische Patienten oft nur wenig Einsicht hinsichtlich der Schwere ihrer Erkrankung haben, müssen ggf. Notmaßnahmen getroffen werden.
Das vorrangige Ziel einer Therapie bestehen zunächst darin, das z.T. lebensbedrohliche Untergewicht samt der Folgen für den Körper zu beheben. Parallel zur Psychotherapie müssen Betroffene ein normales Essverhalten neu erlernen.
Wann sollten Angehörige einschreiten?
Je früher Familienangehörige, Freunde, Kollegen und Bekannte Anzeichen für eine Essstörung erkennen und die Betroffenen darauf ansprechen, umso besser.
Allerdings ist es sinnlos, Magersüchtige zu einem Arztbesuch oder einer Therapie zu zwingen. Sollte der Magersüchtige seine Krankheit nicht einsehen, können sich Betroffene, insbesondere nahestehende Familienangehörige Hilfe bei Beratungsstellen holen.
Dringender Handlungsbedarf ist bei bestimmten Alarmsignalen gefordert. Diese sind z.B. wenn der Betroffene apathisch bzw. teilnahmslos reagiert, körperlich sehr geschwächt ist, nur noch mit leiser Stimme spricht und selbst bei den kleinsten Konflikten anfängt zu weinen. Dann kann der Besuch bei einem Arzt erforderlich sein.
Wann werden Notmaßnahmen getroffen?
Der Gesundheitszustand kann sich aufgrund des starken Untergewichts, der mangelnden Nährstoffversorgung und/oder den Missbrauch von Medikamenten stark bzw. lebensbedrohlich verschlechtern.
In manchen Fällen ist die Einweisung in ein Krankenhaus erforderlich, wo häufig Nährstoffe und Elektrolyten durch Infusion zugeführt werden. Diese Zwangsernährung dient in erster Linie der Lebenserhaltung.
Wann ist eine stationäre Behandlung erforderlich?
Bei akuter Gesundheitsgefährdung durch kritisches Untergewicht, rapiden Gewichtsverlust, körperliche Komplikationen, Suizidgefahr oder Begleiterkrankungen mit schwerwiegenden anderen psychiatrischen Erkrankungen, findet die Behandlung in den meisten Fällen zunächst im Krankenhaus statt. Auch die stationäre Behandlung kann eine Zwangsernährung vorsehen, um körperliche Folgen der Magersucht – bis hin zum Tod – zu verhindern.
Weitere Gründe für einen stationären Klinikaufenthalt bei Magersucht sind zusätzliche Medikamentenabhängigkeit oder psychosoziale Kriterien, wie festgefahrene familiäre Interaktion, soziale Isolation oder das Scheitern ambulanter Behandlungsversuche.
Ein Klinikaufenthalt und die Distanz von Alltagsproblemen daheim kann die Genesung fördern. Zudem findet die Psychotherapie im Krankenhaus meist in konzentrierteren Einzel- und Gruppengesprächen statt, als bei ambulanter Behandlung.
Wie sieht die Ambulante Psychotherapie aus?
Einen Ausweg aus der Magersucht bietet die Psychotherapie, die meist von einer Ernährungsberatung begleitet wird. In Form von Einzel-, Gruppen- oder Familientherapie lernen die Betroffenen, sich ohne Angst und Kalorienzählen ausgewogen zu ernähren.
Vor Beginn einer Psychotherapie wird der Gesundheitszustand des Patienten zunächst in einer medizinischen Untersuchung bestimmt. Ggf. ist zunächst eine stationäre Behandlung empfehlenswert.
Die Therapie unterteilt sich in zwei Abschnitt. Zunächst soll eine Gewichtszunahme erreicht werden, um den Magersüchtigen körperlich zu stabilisieren und (weiteren) körperlichen Folgeschäden entgegenzuwirken. Eine sinnvolle Psychotherapie ist erst dann möglich, wenn die Gedanken nicht mehr unaufhörlich um die Themen Essen und Körpergewicht kreisen.
Zudem hat permanenter Hunger auch Einfluss auf das Denken und Handeln des Patienten, weshalb ein hungernder Magersüchtiger kaum empfänglich für Therapieangebote sein kann. Allerdings sollten Patienten nicht zu einer Gewichtszunahme bis zum Normalgewicht gezwungen werden, da dies im schlimmsten Fall zu Depressionen und Selbstmord führen kann. Das Gewicht sollte nur bis zum notwendigen Grad stabilisiert werden.
Es ist wichtig, dass der Betroffene so früh wie möglich selbst Verantwortung für die Gewichtszunahme übernimmt und diese nicht als erzwungen oder fremdgesteuert erlebt. Um eine Gewichtszunahme zu erreichen, ist eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten erforderlich.
Die Ernährungstherapie ist eine Komponente des i.d.R. langwierigen Heilungsprozesses bei Anorexia nerosa. Betroffene müssen erst (wieder) lernen, ganz „normal“ zu essen.
- Doch was ist eigentlich normal?
- Wie viel Nahrung braucht der Körper?
- Welche Lebensmittel sind gesund?
- Was bedeutet eigentlich „ausgewogene Ernährung“?
- Wie viele Kalorien benötige ich? Wie oft sollte ich essen? Welche Portion ist richtig?
Was bei anderen Menschen Tag für Tag als einstudierter Prozess abläuft, müssen Magersüchtige erst neu lernen. Das ist ein langer und harter Weg. Die Sucht nach einem ausgemagerten Körper und der einstudierte Kontrollwahn sind tief verankert. Auf dem Weg zu einem normalisierten Essverhalten können Belohnungsanreize für das Erreichen gesetzter Ziele sinnvoll sein.
Neben der Unterstützung durch einen Arzt und Ernährungsberater wird zur kombinierten Therapie der Anorexia nervosa auch ein Psychotherapheut hinzugezogen.
Denn langfristig kann eine Normalisierung des Körpergewichts und Essverhaltens nur dann erreicht werden, wenn auch die Ursachen der Magersucht behandelt werden. Die Stabilisierung des Essverhaltens alleine reicht nicht aus, es muss auch eine psychotherapeutische Behandlung des Patienten folgen.
Ziel der Psychotherapie ist es, die gestörte Selbstwahrnehmung zu überwinden und die physische Gesundheit wiederherzustellen. Da an der Entstehung der Magersucht ein Bündel an verschiedenen Faktoren beteiligt ist, umfasst die Therapie verschiedene Komponenten.
Tiefenpsychologische Psychotherapie:
Psychoanalytische Behandlungsansätze sollen unbewusste Ursachen für die Entstehung der Magersucht ins Bewusstsein rücken. Gleichzeitig soll eine Verbesserung von begleitenden psychischen Problemen, wie z.B. Ängsten, Depressionen und Zwängen erreicht werden. Der Magersüchtige setzt sich mit unbewussten, Motivationen und Konflikten auseinander, deren Grundstein in der Lebensgeschichte, meist jedoch in der Kindheit gelegt wurde.
Ziel ist es, die Hintergründe und Ursachen für die Magersucht zu klären und ein tieferes Verständnis des eigenen Selbst zu erreichen. Durch das Bewusstwerden und Aufarbeiten der Konflikte können diese aufgelöst oder abgeschwächt werden, sodass die Persönlichkeit reifen kann.
In psychodynamischen Therapien können die Patienten Aufschluss über die Auslösung seelischer Vorgänge als Reaktionen auf bestimmte äußere und innere Ereignisse und Einflüsse auf die Magersucht erlangen. Häufig wird mit der Psychodynamik eine Verbesserung der Symptomatik erreicht, selbst wenn das fehlangepasste Essverhalten nicht thematisiert wird. Die Psychotherapie kann in Form einer Einzel- und/oder Gruppentherapie erfolgen. Welche Therapieform durchgeführt wird, hängt vom Einzelfall ab und muss jeweils individuell beurteilt werden.
- Einzeltherapie: Der magersüchtige Patient hat die Möglichkeit, gemeinsam mit Therapeuten über Probleme zu sprechen und diese aufzuarbeiten. Die Einzeltherapie findet i.d.R. ein bis zweimal pro Woche statt.
- Gruppentherapie: Bei der Gruppentherapie sind neben den Therapeuten auch andere Gruppenmitglieder anwesend. Das können sowohl Personen sein, die ebenfalls an einer Essstörung leiden, aber auch Mitglieder mit anderen Problematiken. Die Therapeuten greifen in den Gruppensitzungen regulierend ein, geben Denkanstöße und helfen die richtigen Fragen zu stellen. Meistens finden die Gruppentreffen einmal wöchentlich für zwei Stunden statt.
Verhaltenstherapie:
Die verhaltenstherapeutische Verfahren verfolgen das Ziel, eine Extinktion (Auslöschung), Gegenkonditionierung oder Habituation (Umgewöhnung) von Verhaltensweisen zu erreichen. Bezogen auf magersüchtige Patienten, sollen die Beeinflussung der verzerrten Körperwahrnehmung, eine Veränderung der Einstellungen zum Essen und die Vermittlung von Wegen für eine bessere Konfliktbewältigung, sowie soziale Kompetenzen erreicht werden.
Magersüchtige sollen lernen, ein besseres Gefühl für ihren Körper zu entwickeln, um z.B. Körpersignale (Hunger, Durst, Erschöpfung etc.) richtig zu deuten und angemessen darauf zu reagieren. Sie lernen auch, ihren Körperumfang richtig einzuschätzen. Im Rahmen einer Ernährungsberatung- und therapie bieten sich z.B. die Durchführung eines Ernährungstagebuchs und die Erstellung eines Essensplans an.
Die Patienten erhalten Methoden und Lösungsalternativen an die Hand, die ihnen dabei helfen, ihre Probleme zu überwinden. Gleichzeitig sollen Fähigkeiten ausgebildet und gefördert werden, die eine besseren Selbstregulation ermöglichen. Dazu gehört, die eigenen Vorstellungen zur Bedeutung von Gewicht und Figur auf ihre Richtigkeit zu überprüfen:
- Was erhofft sich der Betroffene vom Schlanksein?
- Hängt Schlankheit tatsächlich mit beruflichem und privatem Erfolg zusammen?
- Welche alternativen Wege gibt es, diese Ziele zu erreichen?
In der Verhaltenstherapie werden den Magersüchtigen ihre Gedanken und Bewertungen verständlich gemacht. Sie lernen, ihr Selbstwertgefühl nicht allein von ihrem Gewicht abhängig zu machen, bestimmte Verhaltensweisen zu korrigieren und neue Verhaltensweisen umzusetzen. Die erlernten Lösungsalternativen helfen den Betroffenen bei Problemen im Alltag, bei denen sie sonst immer auf ihre Essstörung als Mittel zur Bewältigen zurückgegriffen haben.
Ziele der Verhaltenstherapie sind eine Normalisierung des Essverhaltens, eine Veränderung von Gedankengängen, die zur Aufrechterhaltung der Magersucht beitragen, sowie eine Verbesserung der Affektregulation, sodass Betroffene auf Belastungen und negative Emotionen nicht mehr mit einem gestörten Essverhalten und Gewichtsverlust reagieren müssen.
Systemische Familientherapie
Bei der familienorientierten Therapie steht die Familie als soziales System im Zentrum der psychologischen Intervention. Diese Therapieform wird vor allem bei jüngeren Magersüchtigen eingesetzt, die noch zuhause bzw. bei ihrer Familie wohnen. In dem Fall ist nicht der Betroffene alleine, sondern seine Familie der behandlungsbedürftige Patient. Dem Anorektiker kommt die Rolle des Symptomträgers zu.
In vielen Fällen ist die Magersucht nämlich ein Symptom familiärer Konflikte und Probleme. Wird das Kind magersüchtig, ist der Fokus der Eltern meist derart stark auf die Anorexie gerichtet, dass sie andere Probleme und Schwierigkeiten in der Familie kaum noch wahrnehmen (wollen). Die ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Magersucht des Kindes kann zur Aufrechterhaltung der Erkrankung beitragen.
In der Familientherapie lernen die Angehörigen angemessen auf das gestörte Essverhalten des Betroffenen zu reagieren und bestimmte Reaktionsweisen einzustellen. Viele Eltern erleben die Unterstützung eines Therapeuten, der manchmal auch an gemeinsamen Mahlzeiten der Familie teilnimmt, als Erleichterung. Ziel der Familientherapie ist es nicht, den einzelnen Magersüchtigen zu ändern, sondern das familiäre System an sich.
Hierfür werden für alle Familienangehörigen Ausdrucksformen und Regeln aufgestellt, um die Kommunikation und den Umgang mit Konfliktsituationen im Alltag zu verbessern. Die Magersucht soll damit nicht mehr als Symptom der familiären Probleme fungieren müssen.
Neben der Einzel- und Gruppentherapie ist die Unterstützung der Familie und Freunde für den Betroffenen meist sehr wertvoll und für die Genesung von großem Nutzen.
Wann werden Medikamente eingesetzt?
Eine Pille gegen Magersucht gibt es nicht. Guter Rat, Drohungen oder Lockmittel bringen meist nichts, weil sich Magersüchtige oft vehement gegen die angebotene Hilfe stemmen. Der Krankheitsverlauf ist häufig langwierig, was eine Therapie erschwert. In einigen Fällen lässt sich mit den zur Verfügung stehenden Therapien keine Heilung erreichen.
Neben der Psychotherapie kommen z.T. auch spezielle Antidepressiva, sogenannt Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), zum Einsatz. Mit ihnen lassen sich begleitende und aufrechterhaltende Begleitstörungen der Magersucht, wie tief sitzende Ängste, Depressionen und anhaltende Zwänge, behandeln.
Diese Antidepressiva wirken jedoch nur auf bestimmte Begleitstörungen, nicht jedoch auf die Magersucht an sich. Vor allem bei jungen Patienten im Kindes- und Jugendalter können Antidepressiva weder Rückfälle verhindern, noch die Genesung beschleunigen.
Manchmal ist die Magersucht so stark, dass die Erkrankten den Bezug zur Realität verloren haben. Dies kann sich in einer wahnhaften Körperschemastörung oder einer nicht therapierbaren Angst vor einer Gewichtszunahme äußern. In dem Fall können sogenannte atypische Neuroleptika mit beruhigender oder stimmungsstabilisiereder Wirkung eingesetzt werden.
Bei der medikamentösen Therapie ist je nach körperlicher Verfassung Vorsicht geboten. Ggf. findet der Einsatz zu Beginn nur in stationärem Rahmen statt. Wie Antidepressiva, wirken auch Neuroleptika symptomatisch, können die Anorexia nervosa also nicht im eigentlichen Sinne heilen.
Werden Magersüchtige wieder vollständig gesund?
Etwa 30 Prozent aller magersüchtigen Patienten kann nach einer Behandlung wieder vollständig genesen. Das bedeutet, dass das Normalgewicht zumindest annähernd erreicht wird und bei Frauen wieder regelmäßig die Regelblutung eintritt.
35 Prozent der Betroffenen nehmen zwar an Gewicht zu, erreichen aber nicht den Bereich des Normalgewichts. Bei etwa 25 Prozent aller Magersüchtiger nimmt die Krankheit einen lebenslangen chronischen Verlauf. Rund 10 Prozent stirbt an den Folgen der Anorexie.
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Chancen auf Besserung bei einem frühzeitigen Krankheitsbeginn aussichtsreicher sind. Deutlich schlechter fällt die Vorhersage hingegen bei sehr frühem Eintritt der Magersucht noch vor dem 11. Lebensjahr aus.
Auch wenn bei einigen Patienten wieder eine vollständige Besserung eintritt und sich das Körpergewicht normalisiert, so hält die verzerrte Einstellung zu Gewicht und Figur oft weiterhin ein. Einige Essgestörte zeigen auch nach Überwindung der Magersucht weiterhin ängstliche und zwanghafte Verhaltensweisen, sowie depressive Symptome auf.
Die körperliche Genesung ist eine Sache, die psychische Genesung eine andere.
Können Selbsthilfegruppen Magersüchtigen helfen?
Neben professionell organisierter Fremdhilfe ist Selbsthilfe eine Möglichkeit, individuelle Probleme aus eigener Kraft oder gemeinsame Probleme mithilfe einer Gruppe zu lösen. Selbsthilfe bedeutet nämlich nicht nur, sich selbst zu helfen, sondern auch anderen zu helfen.
Viele Menschen mit Magersucht und anderen Essstörungen haben sich zu Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen, um sich über ihre seelischen, körperlichen und sozialen Empfindungen und Probleme aussprechen und anderen Mut zu machen. Selbsthilfegruppen können eine Hilfe sein. Die Teilnahme erfolgt zum Teil parallel zu oder nach einer therapeutischen Behandlung.
Es gehört Mut dazu, über die eigene Essstörung zu sprechen, da diese häufig schambehaftet ist und lange versteckt wurde. Es ist jedoch hilfreich, sich nicht vor Familienangehörigen und Freunden seelisch zu „entblößen“, sondern den Austausch mit Gleichbetroffenen zu suchen. Schließlich stecken alle Betroffenen in einem Boot.
Die Neugier und der Wunsch andere Menschen zu treffen, die genau die gleiche Krankheit haben, ist das treibende Motiv, eine Selbsthilfegruppe zu suchen oder zu gründen. Dabei muss es nicht immer eine Selbsthilfegruppe sein, in der nur Magersüchtige sitzen.
Die Ursachen für Essstörungen sind häufig ähnlich, nur die Symptome unterschiedlich. Daher können sich durchaus Menschen mit unterschiedlichsten Essstörungen zusammenfinden, wo sie über ihre Gefühle, Absichten und Hintergründe des Verhaltens sprechen.
Welche Regeln gelten für Selbsthilfegruppen?
Ziel einer Selbsthilfegruppe ist es, gemeinsam physische, psychische und soziale Probleme zu bewältigen, von denen man selbst unmittelbar oder als Angehöriger mittelbar betroffen ist. Für die Teilnahme sind keine besonderen Kenntnisse erforderlich, allerdings sollten sich die Teilnehmer an bestimmte Regeln halten.
Dazu zählt vor allem Verschwiegenheit. Alles, was in der Selbsthilfegruppe besprochen wird, bleibt auch dort. Es werden keine Geheimnisse, Krankheitsgeschichten, Namen etc. nach außen getragen.
Zentrale Merkmale einer Selbsthilfegruppe sind neben Selbstbetroffenheit auch das Handeln in eigener Sache. Jeder Teilnehmer ist daher selbst dafür verantwortlich, sich in die Gruppe einzubringen und über seine Probleme zu sprechen. Schließlich hat jeder das Ziel, sein eigenes Problem zu bewältigen.
Alle Gruppenmitglieder sind gleichberechtigt, egal an welcher Form von Essstörung sie leiden. Gewichtsprobleme (z.B. Untergewicht oder Übergewicht) sind kein Kriterium für eine Essstörung. Auch normalgewichte Personen, denen man es nicht ansieht, können essgestört sein. Die Gruppe sollte entsprechend verständnisvoll reagieren und Betroffenen Normalgewichtigen so ermöglichen, offen über ihre Probleme zu sprechen.
Wichtig bei den Gruppengesprächen ist: Es werden keine Tipps gegeben, die die Essstörung fördern könnten. Dazu zählen Tipps und Tricks, um noch mehr abzunehmen, das Hungergefühl zu unterdrücken, Kalorien zu verbrennen, sich zu übergeben etc. Auch sensible Themen, wie Körpergewicht und Kontrollinstrumente, wie Waagen und Maßbänder werden nicht selten aus den Gruppengesprächen verbannt.
Die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe ist kostenlos. Bei den Gruppen unterscheidet man zwischen geschlossenen und offenen Selbsthilfegruppen. An geschlossenen Gruppen können nur bestimmte Personen teilnehmen. Die Teilnehmerzahl ist meist auf sieben bis 12 Personen beschränkt.
An offenen Selbsthilfegruppen kann hingegen jeder teilnehmen. Die Gruppensitzungen finden i.d.R. einmal wöchentlich für zwei bis drei Stunden statt.
Wie können Selbsthilfegruppen helfen?
Innerhalb der Selbsthilfegruppe ist der Magersüchtige einer von vielen. Hier haben alle ein gestörtes, suchtartiges Essverhalten. Das Gefühl, nicht alle zu sein, sondern Verständnis von Gruppenmitglieder mit ähnlichen Erfahrungen entgegengebracht zu bekommen, ist für viele Magersüchtige ein Weg aus der Isolation und Heimlichtuerei.
In den Gruppengesprächen werden die Beweggründe, die zu dem problematischen Essverhalten geführt haben, thematisiert. Betroffene sprechen offen und ehrlich über ihre Gedanken, Gefühle und Probleme, da Ausflüchte und Lügen in der Gegenwart von Betroffenen schnell auffliegen würden.
In der Selbsthilfegruppe vertritt jeder sich selbst und übernimmt Verantwortung für das eigene Tun. Die Selbstreflexion und das Gefühl der Selbstbestimmung sind die ersten Schritte zur Bewältigung des essgestörten Verhaltens und Weiterentwicklung der Persönlichkeit.
Das eigene Gewicht spielt in der Gruppe keine Rolle. Stattdessen erhalten Betroffene den nötigen seelischen Halt, um eingefahrene Verhaltensweisen zu überdenken und zugunsten neuer aufzugeben. Oftmals wird Magersüchtige in diesen Gesprächen mehr Offenheit und Verständnis entgegengebracht, als vonseiten der Familie oder Freunden, die häufig unter der Essstörung leiden.
Die Gruppengespräche vermitteln Zuversicht und helfen, neue Beziehungen aufzubauen, bei denen die Essstörung keinen Störfaktor darstellt. Die Arbeit an sich selbst und die Erfahrung, wieder andere Eigenschaften an sich und neue Möglichkeiten zu entdecken, stärkt das Selbstwertgefühl.
Das Körpergewicht wird zweitrangig, die Person an sich steht im Mittelpunkt – eine schöne und hilfreiche Erfahrung auf dem Weg der Genesung.
Selbsthilfe – auch für Angehörige!
Nicht nur unmittelbar von der Magersucht Betroffene, auch mittelbar betroffene Angehörige, wie Eltern, Freunde oder der Partner können in Selbsthilfegruppen wertvolle Hilfe und Unterstützung erfahren.
Die Magersucht greift insbesondere bei Kindern und Jugendlichen in den familiären Lebensalltag aller ein. Sei es bei gemeinsamen Mahlzeiten, Restaurantbesuchen etc. Auch Personen, die regelmäßig Umgang mit Betroffenen pflegen, können Ängste, Fragen und Zweifel entwickeln.
Viele Angehörige erleben ein Gefühl der Hilflosigkeit und wissen nicht genau, wie sie sich „richtig“ zu verhalten haben. Schuldgefühle und Verunsicherung können in Wut und Angst ausarten. Damit ist jedoch niemandem geholfen. Selbsthilfegruppen können hier mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Für Magersüchtige können alltägliche soziale Kontakte ebenfalls eine Selbsthilfe sein. Viele Betroffene neigen dazu, sich mit fortschreitender Magersucht zurückzuziehen. Dabei wären Familie, Freunde, Kollegen und Nachbarn wichtige Hilfsinstanzen, auf die Magersüchtige zurückgreifen könnten.
Selbsthilfegruppen können Angehörigen und nahestehenden Personen helfen, wie sie im Umgang mit dem Magersüchtigen das nötige Feingefühl entgegenbringen und selbst lernen, besser mit der Situation zurechtzukommen.
Fazit
Magersucht ist ein Widerspruch.
Einerseits bekämpfen Magersüchtige ihren Körper, andererseits wird der ausgemagerte Körper zur Trophäe, ein Sinnbild ihres „Schaffens“. Magersüchtige beschäftigen sich rund um die Uhr mit dem Thema Essen, nehmen aber kaum Nahrung zu sich.
Sie wollen hohe Leistungen bringen, perfekt und besser sein, als die anderen. Andererseits fürchten sie, aufzufallen. Sie verstecken ihren Körper unter weiter Kleidung und gewähren kaum Zugang zu ihrer Gefühlswelt. Betroffene möchten geliebt werden und haben große Trennungsangst – gleichzeitig fürchten sie Nähe und gehen selbst zu Angehörigen und Freunden auf Distanz. Sie gieren nach Unabhängigkeit, verfallen aber dem Kontrollwahn.
Auch wenn Magersucht eine optisch schockierende Wirkung hat, so darf das äußere Erscheinungsbild Betroffener nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei Anorexia nervosa um eine Erkrankung der Seele handelt. Die Ursachen sind vielschichtig, mangelndes Selbstwertgefühl und der Wunsch nach Selbstbestimmung sind nur zwei Möglichkeiten.
Magersucht: Keine reine Mädchenkrankheit
Magersucht ist ruhig wörtlich zu nehmen. Betroffene entwickeln eine regelrechte Sucht nach einem mageren Körper. Es gibt nur eine Grenze nach unten: den Tod. Dabei ist Magersucht keine reine Frauenkrankheit. Auch bei vielen Jungen und Männern wird Anorexia nervosa diagnostiziert. Ihr Anteil beträgt Expertenschätzungen zufolge etwa 10 Prozent.
Zwar entspricht das Schönheitsideal von Männern weniger mageren „Topmodels“, sondern eher Muskelprotzen, Fußballern und anderen Sportskanonen. Doch genau dieses Wunschbild kann dazu beitragen, dass sich auch Männer immer mehr mit den Themen Sport, Gewicht und Kalorien auseinandersetzen.
Einige Jungs bzw. Männer fangen an, exzessiv Sport zu treiben und Diät zu machen. Sie unterdrücken ihren Appetit, zählen Kalorien und versuchen, sich selbst zu „optimieren“. Daraus kann sich ein Zwang entwickeln, der Zwang immer weniger zu essen und immer mehr Sport zu treiben.
In der Hoffnung, den eigenen Ideal näher zu kommen, verlieren nicht nur Frauen, sondern auch Männer den Bezug zu ihrem eigenen Körper. Die Symptome der Magersucht sind bei Frauen und Männern sehr ähnlich. Jedoch ist bei männlichen Patienten häufiger zu beobachten, dass sie ihr Gewicht vor allem durch körperliche Aktivität und übertriebenes Training zu senken versuchen.
Von der Diät bis zum Magerwahn
Anorexia nervosa fängt meist harmlos mit einer Diät an. Doch wo andere wieder anfangen, normal, bzw. mehr zu essen, wird das Abnehmen bei anderen zur fixen Idee. Lob und Anerkennung von außen fördern die Motivation, noch mehr abzunehmen. Das Wunschgewicht wird immer niedriger, die Waage zur wichtigen Kontrollinstanz.
Auf dem Weg zum neuen Wunschgewicht werden eifrig Kalorien gezählt, Lebensmittel verglichen, Kalorien eingespart, Kalorien verbrannt usw. Erklärtes Ziel: Immer weniger essen, immer weniger wiegen. Wenn sich der Schlankheitswahn erst im Gehirn eingenistet hat, kommt die Magersucht zu ihrer vollen Entfaltung.
Hungern wird zur Kunst, für die der Künstler Anerkennung fordert. Doch wer anfangs noch bewundernde Worte für seinen Abnehmerfolg geerntet hat, stößt ab einer gewissen Gewichtsgrenze auf Ablehnung. Menschen haben ein bestimmtes Ideal von „schön & gesund“. Wer diesem nicht entspricht, weil er zu dick oder zu dünn ist, erntet nicht Anerkennung sondern sogar Verachtung oder Mitleid.
Doch Magersüchtigen, bei denen die Essstörung bereits tief verankert ist, ist das egal. Sie wollen und können nicht einfach so wieder mit dem Hungern aufhören. Selbst wenn sie das Ziel eines anvisierten „Idealgewichts“ erreicht haben, geht die Diät immer weiter. Sie machen es für sich. Daher spielt es keine Rolle, ob ihr Aussehen von der Allgemeinheit als „schön“ oder „attraktiv“ angesehen wird. Sie finden sich umso schöner, je dünner sie sind.
Da ausgemagerter Körper und ein gestörtes Essverhalten im Familien- und Freundeskreis selten auf Bewunderung stoßen, suchen viele Betroffene in Magersuchts-Foren- und Blogs nach der nötigen Bestätigung. Dort sind sich alle einig: Ein paar Gramm Gewichtszunahme oder gar einige Kalorien mehr am Tag kommen einem Scheitern gleich. Es gibt nur einen Weg – und der führt im wahrsten Sinne des Wortes nach unten.
Mager und stolz darauf
Sämtliche Überzeugungsversuche, den Wahnsinn zu beenden, prallen an Magersüchtigen meist ab. Sie werden als Neid, Versuche, „gemästet“ zu werden oder mangelnde Disziplin anderer gedeutet. Magersüchtige definieren ihren Selbstwert über ihr Gewicht. Je weniger sie wiegen, umso mehr sind sie wert.
Sie fühlen sich anderen überlegen, da sie es schaffen, das gierige Grundbedürfnis Hunger zu zähmen. Andere hingegen geben ihren Essensgelüsten nach und kämpfen anschließend gegen die unliebsamen Pfunde an. Magersüchtige sind häufig Perfektionisten und zelebrieren die asketische Lebensweise in allen Lebensbereichen.
Die Leistung ist hart erkämpft und endet im schlimmsten Fall mit dem Tod. Folgeerkrankungen interessieren Betroffene meist nicht. Selbst die Gesundheit muss sich einem niedrigen Körpergewicht unterordnen. Die Magersucht bietet eine Art Schutz, eine Heimat, in der sich Betroffene sicher und behütet fühlen. Sie heuchelt vor, eine Freundin zu sein, dabei führt sie nur zur Selbstzerstörung und zum Tod.
Letzterer ist für einige Magersüchtige sogar einkalkulierter, z.T. sogar gewünschter Teil des Prozesses. In einigen Foren werden Magersüchtige, die sich zu Tode gehungert haben, gar als Vorbild verherrlicht. Der Tod ist schon längst keine Abschreckung mehr. Dafür gibt die vermeintliche „Freundin Ana“ den Betroffenen viel zu viel – bis sie ihnen schließlich alles nimmt.
„Ich bin krank“ – Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung
Warum erkennen Magersüchtige das nicht? Die Betroffenen leiden an einer gestörten Körperwahrnehmung, weshalb Drohungen und guter Rat kaum helfen. Magersucht beginnt im Kopf, wo Kontrolle das beherrschende Thema ist. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Therapie.
Der erste Schritt ist das Eingeständnis der Essstörung. Wer den Teufelskreis aus immer weniger Nahrung und einem immer niedrigeren Gewicht durchbrechen will, muss bereits sein, etwas ändern zu wollen. Das sagt sich so leicht. Doch in Wahrheit kann es lange dauern, bis Magersüchtige der Realität ins Auge blicken und erkennen, dass sie etwas ändern müssen.
Viele Erkrankte haben ihr Leben im Verlauf der Erkrankung derart diszipliniert, dass sie mit Aufgabe der Magersucht fürchten, faul, unförmig und fett zu werden. Auf dem Programm stehen Arbeit, Leistung und Schufterei – die Belohnung ist das niedrige Gewicht. Die Magersucht lässt einen nicht im Stich oder besser gesagt: Sie klettet wie ein giftiges Netz an der Seele.
Ohne professionelle Hilfe geht es meist nicht
Eine Selbstheilung ist äußerst schwer und insbesondere bei längeren bzw. chronischem Krankheitsverlauf nahezu unmöglich. Wer daher unmittelbar oder mittelbar von der Magersucht betroffenen ist, sollte sich Verstärkung holen.
Das können zunächst Vertrauenspersonen, wie Eltern, Freunde oder der Partner sein. Mindestens ebenso wichtig ist jedoch professionelle Hilfe. Beratungsstellen oder der Hausarzt können hier die erste Anlaufstation sein. Ein Erstkontakt kann auch per Email oder Telefon erfolgen. Auch Selbsthilfegruppen können Magersüchtigen und ihren Angehörigen wertvolle Hilfe bieten.
Ein gesundes Körpergewicht und eine ausgewogene Ernährung sind ein Ziel der Therapie. Viel wichtiger ist jedoch, die Ursachen für die Magersucht auszuarbeiten. Selbst wenn man zu glauben scheint, dass auf einen selbst keine Ursache zutrifft, wird man häufig eines besseren belehrt. Manchmal werden erst in der Therapie die Augen vor bislang versteckten oder unterdrückten Problemen geöffnet.
Ein offener Umgang mit den eigenen Ängsten, die Analyse familiärer Beziehungen und die gemeinsame Entwicklung von Strategien für den Alltag sind wichtige Schritte auf dem langen Weg der Genesung. Sie können dazu beitragen, den Körper neu wahrzunehmen und endlich anzunehmen, ein positives Körpergefühl zu entwickeln und das Selbstwertgefühl nicht mehr vom Körpergewicht abhängig zu machen.
Linktipps
Magersucht-online.de: Informationen zu Magersucht – von Betroffenen für Betroffene
Magersucht.de: Selbsthilfe bei Essstörungen
Essfrust.de: Online-Beratung bei Essstörungen
BZGA-Essstoerungen.de: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bei Essstörungen
ANAD.de: Kompetente Beratung und multidisziplinäre Therapie bei Essstörungen
Diara meint
Vielen Dank für diesen guten, ausführlichen Artikel!
Meryem Bayrami meint
Sehr informativer und hilfreicher Artikel, Danke !!